Kälteeinbruch (German Edition)
energisch hin und her und zwang sich mehrmals zu einem Gähnen. Der Druck in seinen Ohren hatte sich aufgebaut, als er den tiefsten Punkt des 3 , 7 Kilometer langen unterseeischen Tunnels erreicht hatte, der zu der Insel führte, auf der er den Empfänger treffen sollte. Nachdem er fünfmal gegähnt hatte und sein Gehörgang bereits schmerzte, ließ der Druck endlich nach. Er warf einen Blick auf sein GPS -Gerät. Noch etwas mehr als vier Kilometer, dann war er da. Unmittelbar nach dem Tunnel lenkte er den Wagen in eine nur mäßig von Schnee geräumte Bushaltebucht. Bei laufendem Motor tippte er die Nummer seiner Schwester in das Handy.
«Taip?»
Ja?
«Sveiki, tai Bernandas.»
Hallo, ich bin’s, Bernandas.
«Hallo!», sagte sie laut. «Wessen Nummer ist das?»
«Die benutze ich nur vorübergehend. Wie geht’s dir?»
«Großartig!», rief sie. «Habe heute die Note meiner letzten Prüfung erfahren. Eins minus.»
Bernandas lächelte stolz. «Alles andere hätte mich auch überrascht.»
Sie kicherte. «Ich war mir ganz sicher, nicht bestanden zu haben.»
«Das denkst du jedes Mal, a…»
«Wo bist du?», unterbrach sie ihn.
«Im Moment bin ich in Norwegen.»
«In Norwegen?»
«Ja, aber in ein paar Stunden bin ich wieder in Schweden und auf dem Weg nach Vilnius.»
«Norwegen … Schweden? Wieso das denn?» Ihre Stimme klang jetzt misstrauisch. «Was treibst du, Bernandas? Du machst doch keine Dummheiten?»
«Nur ein kleiner Kurierdienst», sagte er beschwichtigend. «Gut bezahlt, und bald ist ja Weihnachten, da hab ich mir gedacht: Warum nicht?»
«Bernandas.» Es entstand eine kurze Pause. Ihr Atem hatte sich verändert, als hätte sie eben noch im Bett gelegen und sich plötzlich aufgerichtet. «Keine Dummheiten?»
Ihr Tonfall war exakt der gleiche, mit dem auch seine Mutter ihn als kleinen Jungen bei unzähligen Gelegenheiten zurechtgewiesen hatte.
«Aber nein», log er. «Keine Sorge.»
«Das klingt nicht besonders überzeugend. Du hast doch gesagt, du arbeitest als Zimmermann?»
«Das mach ich jetzt schon seit einer Weile, und ist auch in Ordnung, aber nicht im Winter. Dann hab ich diesen Job angeboten bekommen. Ich bring dir was Schönes mit.»
«Und was genau fährst du …?»
«Ein Auto», sagte er schnell, und bevor sie ihre Frage umformulieren konnte, fügte er hinzu: «Ich muss jetzt aber Schluss machen. Ich ruf dich morgen Vormittag an. Hab dich lieb.»
«Bern–»
Er legte auf. Schob das Handy unter den Schenkel und fuhr wieder auf die Straße. Schneebedeckte Äcker gingen in weihnachtlich geschmückte Wohngebiete über. Sogar die Bäume in den Gärten waren mit Hunderten kleiner Lämpchen dekoriert. Schmale Sträßchen schlängelten sich zwischen großen Häusern hindurch.
Bernandas berührte das Minuszeichen auf dem Touchscreen des GPS -Geräts. Nachdem er seit seiner Abfahrt in Malmö mehr als sieben Stunden unterwegs gewesen war, hatte er sein Ziel nun fast erreicht, noch 460 Meter, dann hatte er die Hälfte seiner Reise geschafft.
Er nahm an, dass hier vor nicht allzu langer Zeit noch überhaupt keine Häuser gestanden hatten. Die Hälfte der Einfamilienhäuser sah aus wie Baustellen. Langsam fuhr er das letzte Stück Straße hinauf. Sein Blick wanderte zwischen dem kleinen Bildschirm und der Fahrbahn hin und her. Er verlangsamte das Tempo und blickte suchend durch die Windschutzscheibe, als die Straße plötzlich an einem Wendeplatz endete. Dem GPS zufolge waren es noch 400 Meter. Ein provisorischer Parkplatz mit zwei Reifenspuren im Schnee war offensichtlich die letzte Haltemöglichkeit. Dahinter erstreckten sich nur noch Bäume, so weit das Auge reichte.
Er musste den Rest zu Fuß gehen.
«Pragaras!»
Verdammt!
Bernandas schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Frustriert lehnte er sich in dem klammen Sitz zurück, auf dem er insgesamt mehr als dreißig Stunden verbracht hatte. Der rote Punkt auf dem Display markierte den Treffpunkt. Er blinkte hell. Bernandas stellte den Motor ab. Fischte eine Zigarette aus der Packung, die er an einer Shell-Tankstelle gleich hinter der norwegischen Grenze gekauft hatte, und sprang aus dem Wagen. Seine Winterstiefel versanken im Schnee. Die dicke blaue Daunenjacke konnte die Kälte nicht abhalten. Der Wind, dem der Wald mit seinen dicht stehenden Bäumen nichts an Kraft zu nehmen schien, traf Bernandas mit unverminderter Wucht. Mit dem GPS in der Hand bewegte er sich auf den Treffpunkt zu. Die digitalen Ziffern in der rechten
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