Kälteeinbruch (German Edition)
wohnen sollte, nicht betreten dürfen. Zuerst hatten sie in einer schmalen Straße mit brennenden Straßenlaternen gehalten, aber dann war Bernandas auf die andere Seite gefahren und hatte den Wagen hinter dem Haus abgestellt. Bernandas war allein hineingegangen. Darius hatte gesehen, wie er einen Augenblick vor der Tür stehen geblieben war, dann war er im Haus verschwunden. Kurz darauf war er wieder herausgekommen, zum Wagen gerannt und ohne ein weiteres Wort hierher zurückgefahren.
Inzwischen waren mehrere Stunden vergangen und Bernandas hatte sich zu Leonas gesetzt. Dass der kleine Junge wesentlich mehr Angst hatte als er, war offensichtlich.
Darius starrte die Teelichter auf dem Wohnzimmertisch an. Die Gesichter von Bernandas und Leonas verschwammen im Hintergrund. Verloren ihre Konturen, als gäbe es sie gar nicht. Die Wärme des Ölofens drang an sein linkes Bein. Er hielt die Hände ein paar Zentimeter über den Ofen. Ballte sie zu Fäusten. Öffnete sie wieder.
Darius war immer noch müde von den Schlaftabletten, das Schwindelgefühl war allerdings verschwunden. Sein Magen knurrte laut. Er war an Hunger gewöhnt und konnte es länger als die meisten Menschen ohne Essen aushalten. Das musste er aber nicht allzu oft unter Beweis stellen, weil man wesentlich leichter an Essbares herankam, als die meisten, die nicht auf der Straße lebten, dachten. Die Schokolade, die Bernandas mit ihm und Leonas vor einer halben Stunde geteilt hatte, hatte alles nur schlimmer gemacht. Sie hatte seinen Magen regelrecht ausgetrickst, dieser hatte sich auf mehr Essen eingestellt und zu arbeiten begonnen. Er hätte sie nicht essen und den Magen lieber mit Wasser füllen sollen. Daheim in Kaunas konnte er einfach losziehen und sich etwas zu essen besorgen, wenn sich der Hunger regte. In den Müllcontainern vom Einkaufszentrum Mega lagen meist so viele Lebensmittel, dass er und seine Freunde sich davon mehrere Tage am Stück ernähren konnten. Er war damit gut zurechtgekommen, und im Augenblick wünschte er sich in das alte, ausgebrannte Backsteingebäude am Stadtrand zurück, wo er mit seinen Freunden sitzen und frieren könnte. Bernandas’ Verhalten ließ ihn nämlich langsam daran zweifeln, dass der alte grauhaarige Mann die Wahrheit gesagt hatte.
Darius griff nach dem halbvollen Glas. Das Wasser aus dem Hahn war so kalt gewesen, dass ihm beim Trinken der Brustkorb geschmerzt hatte und ihm im Kopf ganz eisig geworden war. Mittlerweile hatte es Zimmertemperatur. Er kippte es in sich hinein. Setzte sich zurück aufs Sofa und faltete die Hände im Schoß. Ließ den Blick zu Bernandas wandern, der noch ein weiteres Blatt Papier faltete und von Leonas dabei beobachtet wurde. Origami. Ein Freund von ihm hatte sich ein Mädchen geangelt, indem er sie mit selbstgefalteten Rosen und dreidimensionalen Herzen aus Papier bezirzt hatte. Bernandas schien nur drei Figuren zu können: Drache, Ente und Schwan. Er brachte jedenfalls nichts anderes hervor. Er faltete langsam und zeigte Leonas jeden Schritt. Bernandas hatte ihn aufgefordert, gut aufzupassen, danach wollten sie gemeinsam eine Figur falten, und anschließend sollte Leonas es ganz allein probieren.
Das Handy warf einen bläulichen Schimmer an die Decke und vibrierte zweimal. Bernandas nahm es in die Hand und las die Nachricht, dann stand er auf und ging zur Tür. Er zog den Reißverschluss der Jacke zu, drehte sich um und sagte: «Hier im Haus ist der Empfang zu schlecht. Bin gleich wieder zurück.»
Darius ging zum Fenster. Er konnte sehen, wie Bernandas mit dem Handy am Ohr ein paar Schritte machte. Dann blieb er stehen, schien ins Telefon zu schreien. Mit dem anderen Arm fuchtelte er in der Luft herum und kickte in den Schnee.
«Sie eliminieren? Umbringen? Bist du von allen guten Geistern verlassen?», schrie Bernandas Richtung Meer.
«Na ja, wie du selbst bei deinem Anruf heute Nacht gesagt hast, wird er wohl kaum noch auftauchen … Ich hab in der Zwischenzeit versucht, jemanden zu finden, der sie nehmen kann, ohne Erfolg.»
«Der sie nehmen kann? Der eine hat behauptet, dass er seine Mutter treffen soll, die er noch nie gesehen hat, und der andere soll in einem großen Haus wohnen, zur Schule gehen und arbeiten. Was ist damit? Kann ich die beiden nicht einfach dort absetzen?»
Es entstand eine kurze Pause.
«Das sind Details, die nur der Empfänger kennt, Bernandas. Okay?»
«Was soll ich jetzt machen? Ich kann sie ja nicht einfach hierlassen, und sie wieder mit
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