Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
sie seit vielen Jahren nicht gesehen«, sagte Tryggvi. »Wahrscheinlich sind die jetzt alle Ärzte. Spezialisten für dieses und jenes. Reich und fett.«
»Kam die Idee von ihnen?«
Tryggvi sah Erlendur an, als sei er zu weit gegangen. Hier bestimmte er, wo es langging, und wenn Erlendur etwas dagegen hatte, konnte er sich verpissen.
»Ich weiß immer noch nicht, wozu du das alles wieder ausgraben willst«, sagte er.
Erlendur stöhnte. »Es hängt möglicherweise mit einem Fall zusammen, den ich gerade bearbeite, mehr kann ich dazu nicht sagen.«
Tryggvi zuckte die Achseln. »Ganz, wie du willst.« Er nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche. Erlendur wartete geduldig.
»Ich habe gehört, dass du selbst um dieses Experiment gebeten hast«, sagte er schließlich.
»Das ist eine verdammte Lüge«, entgegnete Tryggvi. »Das ist nicht von mir ausgegangen, die sind zu mir gekommen.«
Erlendur schwieg.
»Ich hätte nie auf diesen Idioten hören sollen«, sagte Tryggvi.
»Und wer war dieser Idiot?«
»Mein Cousin, der verfluchte Kerl!«
Wieder herrschte eine Weile Schweigen, das Erlendur nicht unterbrechen wollte. Er wollte nichts erzwingen, weil er hoffte, dass Tryggvi selbst das Bedürfnis verspüren würde zu erzählen, was geschehen war, und sei es auch nur einem Unbekannten in der Cafeteria des Busbahnhofs.
»Ist dir nicht kalt?«, fragte Tryggvi und zog seinen Parka dichter an sich.
»Nein, hier drinnen ist es nicht kalt.«
»Mir ist immer kalt.«
»Was hast du da über deinen Cousin gesagt?«
»Ich kann mich nicht genau erinnern, wie es war«, sagte Tryggvi.
Erlendur sah ihn an und hatte das Gefühl, dass er sich ganz im Gegenteil sehr präzise an das erinnerte, was passiert war.
»Diese Idee ist irgendwann einmal bei einem Besäufnis aufgekommen, und sie blieb nicht ohne Folgen. Denen fehlte ein Versuchskarnickel. ›Nehmen wir doch einfach den Theologen‹, sagten sie, ›schicken wir ihn zur Hölle.‹ Einer von ihnen war wie gesagt … Er war mein Cousin, eines von diesen reichen Arschlöchern. Der fuhr irgendwie total auf den Tod ab und das, was danach kommt. Das war schon eine fixe Idee. Ich war auch nicht ganz frei davon, und das wusste er. Er wusste es sehr genau, und er hat mir ein ganzes damaliges Monatsgehalt dafür gezahlt. Außerdem gehörte da ein Mädchen zu der Clique, in das ich … ein bisschen verliebt war. Vielleicht habe ich es seinetwegen gemacht. Das kann ich nicht ganz abstreiten. Sie waren schon weiter als ich. Mein Cousin war im letzten Jahr und, dieses Mädchen, auch.«
Achtzehn
Tryggvi hatte die Flasche bereits zur Hälfte geleert und starrte mit traurigen Augen nach draußen auf die Busfahrsteige. Sein Bericht war keinesfalls geradlinig, er wiederholte sich häufig und schweifte ab. Manchmal machte er auch längere Pausen, schwieg vor sich hin, ließ den Kopf sinken und starrte auf den Tisch, als sei er ganz allein auf der Welt. Allein mit seinen Gedanken und einsam sein ganzes Leben lang. Erlendur traute sich nicht, ihn zu stören. Er war sich ziemlich sicher, dass Tryggvi so gut wie nie über diese Ereignisse gesprochen hatte und dass damit noch etliche andere unverarbeitete Dinge verbunden waren, die Tryggvi nie hatte verdrängen können und die ihm wie Spukgestalten durchs Leben gefolgt waren.
Es war die Idee seines Cousins gewesen, der kurz vor dem Abschluss seines Medizinstudiums stand und beabsichtigte, im Herbst zur Spezialausbildung in die Vereinigten Staaten zu gehen. Zu der Zeit arbeitete er als Assistenzarzt im städtischen Krankenhaus, das es damals noch gab, und war der Beste seines Jahrgangs. Auf Partys stand er immer im Mittelpunkt; er spielte Gitarre, konnte überaus witzig erzählen und organisierte Abenteuerausflüge nach Þórsmörk. Er mischte überall mit, sein Selbstvertrauen war unerschütterlich, er war resolut, zielstrebig und unverfroren. Irgendwann einmal hatte er Tryggvi bei einer Familienfeier getroffen und ihn gefragt, ob er etwas von diesen französischen Medizinstudenten gehört hätte, die ein hochinteressantes, aber völlig illegales Experiment unternommen hätten.
»Was für ein Experiment?«, hatte Tryggvi gefragt, der in jeder Hinsicht das Gegenteil seines Cousins war. Er war schüchtern und zurückhaltend und blieb gerne für sich; noch nie hatte er auf Versammlungen das Wort ergriffen, und er weigerte sich, an diesen Abenteuerausflügen der unternehmungslustigen Medizinstudenten nach Þórsmörk teilzunehmen. Was den
Weitere Kostenlose Bücher