Kaeltezone
anzustellen, aber ohne Erfolg. Die Behörden zeigten sich völlig desinteressiert. Angesichts des politischen Zustands in Ungarn machten sich die Funktionäre nicht das Geringste daraus, wenn eine vermeintliche Oppositionelle verhaftet wurde. Die Eltern schrieben auch, dass sie keine Reiseerlaubnis in die DDR bekämen, um selber Nachforschungen anzustellen. Sie schienen vollkommen verzweifelt zu sein.
Er schrieb zurück, dass er alles daransetze, um in Leipzig etwas in Erfahrung zu bringen. Er sehnte sich danach, ihnen alles sagen zu können, was er wusste, dass sie heimlich gegen die SeD und die FDJ agitiert hatte, dass sie Kritik an bestimmten Veranstaltungen und an der Unterdrückung von Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Pressefreiheit geübt hatte. Dass sie junge Deutsche auf ihre Seite gezogen und geheime Treffen organisiert hatte. Und dass sie es nicht hätte voraussehen können. Und schon gar nicht er selber. Aber er wusste, dass er einen solchen Brief nicht schreiben konnte, weil alles, was von ihm kam, gelesen werden würde.
Stattdessen schrieb er, dass er nicht ruhen werde, bis er herausgefunden hätte, was aus Ilona geworden war, und sie wieder freikäme.
Er ging nicht mehr zur Universität. Tagsüber marschierte er von einer Behörde zur anderen und ließ sich Termine bei den Funktionären geben, verlangte Hilfe und Erklärungen. Zuletzt war es nur noch eine reine Formsache, denn es stellte sich immer klarer heraus, dass er dort keine Antworten auf seine Fragen bekam und sie nirgends bekommen würde. Nachts tigerte er in ihrem kleinen Zimmer auf und ab. Er konnte kaum noch richtig schlafen, schreckte nach ein paar Stunden unruhigem Schlaf wieder hoch. Die ganze Zeit über hoffte er, dass sie plötzlich wieder auftauchen würde, dass der Albtraum zu Ende wäre, dass sie mit einer Verwarnung freigelassen und wieder zu ihm zurückkommen würde und sie zusammen sein konnten. Er fuhr bei jedem Geräusch auf, das von der Straße hereindrang. Wenn sich ein Auto näherte, ging er zum Fenster. Wenn es irgendwo im Haus knarrte, blieb er stehen, lauschte und hoffte, dass es Ilona wäre. Aber sie kam nicht. Und wieder brach ein neuer Tag an, und er war so entsetzlich allein und hilflos in dieser Welt.
Endlich raffte er sich dazu auf, Ilonas Eltern einen weiteren Brief zu schreiben und ihnen zu sagen, dass sie sein Kind unter dem Herzen getragen hatte. Es kam ihm so vor, als hörte er bei jedem einzelnen Buchstaben ihr Wehklagen.
Nun hielt er nach all diesen Jahren die Briefe von ihnen in der Hand, las sie wieder und spürte immer noch den Zorn darin, später die Verzweiflung und das völlige Unverständnis. Sie sahen ihre Tochter nie wieder. Er sah seine Geliebte nie wieder.
Ilona war für sie unwiederbringlich verloren.
Wie immer, wenn er es sich gestattete, sich in seine schmerzlichsten Erinnerungen zu vergraben, seufzte er tief. Gleichgültig, wie viele Jahre auch vergingen, die Sehnsucht war immer gleich schmerzhaft, der Verlust genauso unbegreiflich wie zuvor. In späteren Jahren versuchte er es zu vermeiden, über ihr Schicksal nachzudenken. Früher hatte er sich endlos mit dem Gedanken daran gequält, was mit ihr geschehen war, nachdem man sie abgeführt hatte. Er stellte sich die Verhöre vor. Er sah die Gefängniszelle neben dem kleinen Büro in der Stasizentrale vor sich. Hatte man sie dort eingesperrt? Wie lange? Hatte sie Angst gehabt? Hatte sie sich gewehrt? Hatte sie geweint? War sie misshandelt worden? Wie lange war sie dort oder woanders geblieben? Und natürlich die schlimmste Frage von allen: Was war aus ihr geworden?
Jahrelang hatte sich sein ganzes Leben nur um diese Fragen gedreht. Er hatte nie geheiratet und Kinder bekommen. Er versuchte, so lange wie möglich in Leipzig zu bleiben, aber da er sich von der Universität fern hielt und sich den Behörden und der FDJ gegenüber renitent verhielt, wurde ihm das Stipendium gestrichen. Er versuchte, ein Bild von Ilona zusammen mit einer Meldung über ihre ungesetzliche Festnahme im FDJ-Organ und in den Tageszeitungen von Leipzig unterzubringen, lief aber gegen Wände. Zuletzt wurde er aus der DDR ausgewiesen.
Als er später Nachforschungen anstellte und sich darüber informierte, wie man in jenen Zeiten im Ostblock mit Oppositionellen und Regimegegnern verfuhr, fand er heraus, dass es eine Reihe von Möglichkeiten gab. Sie konnte während der Inhaftierung in Leipzig oder in Ostberlin, wo sich der Hauptsitz der Staatssicherheit
Weitere Kostenlose Bücher