Kafka am Strand
sorgte dafür, dass Nakata außerdem von der Stadt Tokyo eine Unterstützung für geistig Behinderte bekam. Damit erschöpfte sich die »Betreuung« durch den jüngeren Bruder. Selbst als Analphabet schaffte Nakata es, die meisten Aufgaben im Alltagsleben allein zu bewältigen, und wenn man ihm Wohnung und Unterhalt gab, kam er ohne Hilfe von außen zurecht. Seine jüngeren Brüder pflegten fast keinen Kontakt mit ihm. Nur am Anfang hatten sie sich einige Male gesehen. Aber Nakata und seine Brüder hatten über dreißig Jahre getrennt gelebt, und die Kluft zwischen ihren Lebensumständen war groß. So etwas wie eine natürliche Zuneigung zwischen Blutsverwandten schien nicht zu bestehen, und falls doch, so waren die Brüder zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, als dass sie Zeit gehabt hätten, sich um ihren geistig behinderten älteren Bruder zu kümmern.
Doch Nakata empfand die Gleichgültigkeit seiner Verwandten nicht als besondere Härte. Er war daran gewöhnt, allein zu sein, und es machte ihn eher nervös, wenn er von jemandem beachtet oder freundlich behandelt wurde. Er ärgerte sich nicht einmal darüber, dass die Ersparnisse, die er während seines ganzen Lebens zusammengekratzt hatte, von seinem Cousin verschleudert worden waren. Natürlich verstand er, dass das »ziemlich unangenehm« war, aber richtig verbittert war er nicht. Was eine Hotelanlage war und was »Investition« bedeutete, verstand er nicht. Er verstand nicht einmal genau, was es hieß, »Schulden« zu machen. Nakatas Wortschatz war recht beschränkt.
Die höchste Summe, die Nakata sich als real vorstellen konnte, lag etwa bei fünftausend Yen. Höhere Summen wie hunderttausend, eine Million oder eine Milliarde waren für ihn das Gleiche, nämlich »viel Geld«. Er hatte zwar Ersparnisse, aber er betrachtete sie nicht als konkretes Geld. Wenn man ihm sagte, »Jetzt hast du soundsoviel auf dem Konto«, war das für ihn nicht mehr als eine abstrakte Zahl. Daher hatte er bei der Nachricht, sein Geld sei jetzt plötzlich verschwunden, auch nicht das Gefühl, einen Verlust erlitten zu haben.
Nakata wohnte also in der Wohnung, die ihm sein Bruder beschafft hatte, erhielt Sozialhilfe, fuhr mit seinem Behindertenausweis Bus, unterhielt sich in nahe gelegenen Parks mit den Katzen und führte alles in allem ein seelenruhiges Leben, ohne Mangel und ohne Angst. Der Stadtteil Nakano wurde seine neue Welt, und wie Katzen und Hunde verließ er sein Revier nur im äußersten Notfall. Weder fühlte er sich einsam, noch machte er sich Sorgen um die Zukunft oder hatte andere unangenehme Gefühle. Es machte ihm Spaß, den ganzen Tag ziellos und ausgiebig durch die Gegend zu streifen. Dieses Leben hatte über zehn Jahre angedauert.
Bis Johnnie Walker aufgetaucht war.
Nakata hatte das Meer sehr lange nicht gesehen, denn weder in der Präfektur Nagano noch im Stadtteil Nakano hatte es Meer gegeben. Zum ersten Mal wurde Nakata bewusst, dass er das Meer lange Zeit entbehrt hatte. Allerdings hatte er auch nie daran gedacht. Zur Bestätigung nickte er sich selbst mehrmals zu. Er nahm die Mütze ab und fuhr sich über das kurze Haar, setzte die Mütze wieder auf und schaute lange aufs Meer. Mehr, als dass es ungeheuer weit und groß war, dass Fische darin lebten und dass sein Wasser salzig schmeckte, wusste Nakata nicht darüber.
Er saß auf der Bank, atmete den Duft des Windes ein, der vom Meer herüberwehte, sah den Möwen am Himmel zu und betrachtete die Schiffe, die in der Ferne vor Anker lagen. Er schaute und schaute und wurde doch des Schauens nicht müde. Hin und wieder kam eine weiße Möwe in den Park und ließ sich auf dem frühsommerlichen Grün des Rasens nieder. Die beiden Farben ergaben ein wunderschönes Bild. Probeweise sprach Nakata eine Möwe an, die auf dem Rasen herumstolzierte, aber sie warf ihm nur einen unpersönlichen Blick zu und gab keine Antwort. Keine Katze ließ sich blicken. Die einzigen Tiere, die in den Park kamen, waren Möwen und Spatzen. Als Nakata gerade einen Schluck Tee aus seiner Thermosflasche trank, fing es zu tröpfeln an, und er spannte seinen sorgsam gehüteten Schirm auf.
Als Hoshino kurz vor zwölf zurückkam, hatte es bereits aufgehört zu regnen. Mit geschlossenem Schirm saß Nakata in unveränderter Haltung auf der Bank und sah aufs Meer. Der junge Mann hatte seinen Lastwagen abgestellt und war mit dem Taxi gekommen.
»Entschuldige, dass es so lange gedauert hat«, sagte er. Über der
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