Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Schulter trug er eine Reisetasche aus Kunststoff. »Ich wollte viel früher fertig sein, aber es gab allen möglichen Nerv. Bei jeder Lieferannahmestelle gibt es einen, der über alles und jedes meckert.«
    »Macht gar nichts. Nakata hat die ganze Zeit hier gesessen und aufs Meer geschaut.«
    »Gut«, sagte der junge Mann und sah in die Richtung, in die Nakata blickte. Er sah dort nichts außer schäbigen Molen und öligem Meer.
    »Nakata hat das Meer lange nicht gesehen.«
    »Aha.«
    »Das letzte Mal in der Grundschule. Am Strand von Enoshima.«
    »Das ist ganz schön lange her, was?«
    »Damals war Japan von Amerika besetzt, und der Strand von Enoshima war voll von amerikanischen Soldaten.«
    »Das ist nicht wahr!«
    »Doch, es ist wahr.«
    »Ach, hör doch auf«, sagte der Junge. »Japan war doch nicht von Amerika besetzt, oder?«
    »Mit so schwierigen Sachen kennt Nakata sich nicht aus, aber Amerika hatte Flugzeuge, die B-29 hießen. Die haben viele Bomben auf Tokyo geworfen, und Nakata kam nach Yamanashi. Dort ist er krank geworden.«
    »Ist ja schon gut. Mir fällt langes Reden auch schwer. Jedenfalls müssen wir jetzt gehen. Es ist später geworden, als ich dachte. Wenn wir weiter hier rumhängen, wird es dunkel.«
    »Wohin gehen wir denn?«
    »Nach Shikoku. Über die Brücke. Und dann sehen wir uns mal in Shikoku um.«
    »Aber Ihre Arbeit, Herr Hoshino –«
    »Egal, wenn man etwas unbedingt tun will, dann geht’s auch. Ich hab jetzt genug gearbeitet und will auch mal frei haben. Außerdem war ich auch noch nie auf Shikoku. Hab Lust, mich dort ein bisschen umzuschauen. Außerdem ist es doch viel einfacher für dich, Fahrkarten mit mir zu kaufen, wo du doch nicht lesen kannst, mein Freund. Oder stört es dich, wenn ich mitkomme?«
    »Nein, kein bisschen!«
    »Dann ist es also entschieden. Ich hab schon rausgefunden, wann der Bus fährt. Auf geht’s nach Shikoku.«

23
    In dieser Nacht sehe ich den Geist.
     
    Ich weiß nicht, ob es korrekt ist, von einem »Geist« zu sprechen, zumindest handelt es sich nicht um eine lebendige Substanz. Dass das Wesen nicht der realen Welt entstammt, ist mir auf den ersten Blick klar.
    Unvermittelt bin ich aufgewacht und sehe ein junges Mädchen. Dafür, dass es mitten in der Nacht ist, wirkt der Raum sonderbar hell. Durch das Fenster scheint der Mond. Obwohl ich den Vorhang vor dem Schlafengehen vorsichtshalber zugezogen habe, ist er nun ganz geöffnet. Ihre im Mondschein deutlich umrissene Silhouette ist in knochenbleiches Licht getaucht.
    Sie ist etwa in meinem Alter, fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Wahrscheinlich fünfzehn, schätze ich. Zwischen fünfzehn und sechzehn besteht ein großer Unterschied. Sie ist zart gebaut und zierlich, aber sie hält sich gerade und macht keinen schwächlichen Eindruck. Sie ist weder groß noch klein. Das glatte Haar reicht ihr etwa bis zum Hals und fällt ihr in die Stirn. Sie trägt ein hellblaues Kleid mit ausgestelltem Saum und weder Schuhe noch Strümpfe. Die Manschetten ihres Kleides sind ordentlich zugeknöpft. Der große runde Ausschnitt lenkt die Aufmerksamkeit auf ihren schönen Hals.
    Sie sitzt auf dem Stuhl am Schreibtisch, stützt die Wangen in die Hände und hat den Blick auf die Wand gerichtet. Sie denkt über etwas nach, aber es scheint nichts Schwieriges zu sein. Es wirkt jedenfalls, als sei sie in angenehme Erinnerungen an eine ferne Vergangenheit versunken. Hin und wieder umspielt ein winziges Lächeln ihre Mundwinkel. Doch durch die Schatten, die das Mondlicht hervorruft, vermag ich ihr feines Mienenspiel nicht zu deuten. Ich stelle mich schlafend. Was auch immer sie dort tut, ich will sie nicht stören. Ich atme leise und wage nicht, mich zu rühren.
    Das Mädchen ist ein »Geist«, das weiß ich. Zum einen ist sie einfach zu schön. Nicht nur ihre Gesichtszüge sind schön, sondern ihre ganze Erscheinung ist zu vollkommen, um von dieser Welt zu sein. Sie sieht aus wie eine Traumgestalt. Das Gefühl, das ihre reine Schönheit ihn mir auslöst, hat Ähnlichkeit mit Trauer. Es ist ein sehr natürliches Gefühl, das es jedoch trotz seiner Natürlichkeit in der Normalität nicht gibt. Mit angehaltenem Atem liege ich unter meiner Bettdecke, während sie, das Gesicht in die Hände gestützt, ihre Haltung auch kaum verändert. Mitunter bewegt sie das Kinn ein klein wenig, wodurch die Neigung ihres Kopfes sich um eine Spur verschiebt. Das ist die einzige Bewegung, die im Zimmer stattfindet. Vom Licht des Mondes übergossen,

Weitere Kostenlose Bücher