Kafka am Strand
vom Bahnhof erreichbar war. Das Hotel war mittelmäßig und keineswegs beeindruckend, aber der junge Mann und Nakata waren nicht unzufrieden. Solange es ein Bett gab, in das sie sich legen und schlafen konnten, war ihnen alles andere ziemlich egal. Wie in ihrer letzten Unterkunft gab es nur Frühstück und kein Abendessen. Was ohnehin besser war, da man nie wissen konnte, wann Nakata einschlief.
Auf dem Zimmer hieß Nakata den jungen Mann, sich noch einmal bäuchlings auf die Tatami zu legen, setzte sich auf ihn und drückte die Daumen in sein Kreuz. Alsdann untersuchte er ausgiebig jeden einzelnen Muskel und jedes Gelenk vom Hüftknochen bis zur Wirbelsäule. Diesmal wandte er kaum Kraft auf. Er tastete nur die Knochen ab und suchte nach Muskelverspannungen.
»Gibt’s ein Problem?«, fragte der junge Mann unsicher. Er fürchtete sich vor einem neuen unerwarteten Schmerz.
»Nein, anscheinend alles in Ordnung. Keine ungesunde Stelle zu entdecken. Ihre Knochen haben auch wieder eine sehr gute Form«, lobte Nakata.
»Da bin ich ja froh. Ehrlich gesagt, möchte ich so was Schreckliches nicht noch mal erleben«, sagte der junge Mann.
»Jawohl. Entschuldigung. Aber weil Sie doch gesagt haben, es macht Ihnen nichts aus, wenn es wehtut, hat Nakata mit aller Kraft gedrückt.«
»Stimmt, hab ich gesagt. Aber alles hat seine Grenzen, mein Lieber. Auf der Welt gibt es etwas, das man gesunden Menschenverstand nennt. Na ja, immerhin hast du meinen Rücken geheilt, also kann ich mich nicht beschweren. Trotzdem , der Schmerz war extrem. Brutal. Ein Schmerz, wie man sich ihn nicht vorstellen kann. Der einen in Stücke reißt. Ein Gefühl, als würde man nach seinem Tod wiedergeboren.«
»Nakata war drei Wochen tot.«
»Hm«, machte der junge Mann, der bäuchlings auf dem Boden lag. Er nahm einen Schluck Tee und knabberte ein paar Reiskräcker, die sie im Supermarkt gekauft hatten. »Aha. Du warst also drei Wochen tot?«
»Jawohl.«
»Und wo warst du während dieser Zeit?«
»Nakata kann sich nicht genau erinnern. Irgendwo ganz weit weg, und da hat er was anderes gemacht. Aber es ist ihm im Kopf verschwommen, und er weiß nicht mehr was. Dann ist er wieder hierher zurückgekommen und war dumm und konnte nicht mehr lesen und schreiben.«
»Vielleicht hast du die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben, dort gelassen.«
»Das kann sein.«
Die beiden schwiegen eine Weile. Auch wenn es wild und fantastisch klang, so hatte der junge Hoshino doch das Gefühl, dass er es dabei belassen und nicht nachbohren sollte. Auch hatte er das Gefühl, dass er nur in ein heilloses Durcheinander geraten würde, wenn er dem Umstand, dass »Nakata einmal drei Wochen tot« war, weiter nachginge. Also wechselte er das Thema und kam auf realere, unmittelbarere Fragen zu sprechen.
»So, jetzt sind wir also in Takamatsu. Und wie geht’s weiter?«
»Nakata weiß nicht, was wir machen sollen.«
»Wollten wir nicht den ›Eingangsstein‹ suchen?«
»Jawohl. Ganz recht. Schon ganz vergessen. Müssen den Stein suchen. Aber wo der Stein zu finden ist, weiß Nakata gar nicht. Alles hier ist so verschwommen und wird nicht richtig klar. Nakata ist sowieso schon dumm, und jetzt weiß er gar nicht mehr, was zu tun ist.«
»Das ist aber blöd.«
»Jawohl. Sehr blöd.«
»Bloß, wenn wir hier sitzen und uns anglotzen, kommt auch nichts dabei raus.«
»Sie sagen es, Herr Hoshino.«
»Wie war’s, wenn wir zuerst mal rumfragen würden? Ob es in dieser Gegend so einen Stein gibt.«
»Wenn Sie das sagen, fragt Nakata mal die Leute. Nakata will nicht angeben, aber weil er dumm ist, hat er im Fragen Übung.«
»Lieber einmal fragen, als das ganze Leben lang nichts wissen, hat mein Großvater immer gesagt.«
»Ganz genau. Wenn du tot bist, ist alles, was du weißt, sowieso verschwunden.«
»Ist das nicht etwas anderes?« Der junge Mann kratzte sich am Kopf. »Egal … im Großen und Ganzen hast du Recht. Hast du vielleicht ein Bild im Kopf, wie der Stein aussieht? Wie groß er ist, welche Form und welche Farbe er hat? Und welche Wirkung? Wenn wir das nicht wissen, können wir schlecht jemanden fragen, ›Wissen Sie vielleicht, wo hier in der Nähe der Eingangsstein ist?‹ Das kapiert doch keiner, und die Leute halten uns vielleicht für verrückt. Oder?«
»Jawohl. Nakata ist dumm, aber nicht verrückt.«
»Eben.«
»Der Stein sieht so aus: Nicht so groß. Seine Farbe ist weiß, und er riecht nach nichts. Die Wirkung weiß Nakata nicht. Er hat die
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