Kafka am Strand
gern gehabt, Herr Hoshino, ja?«
»Doch, schon. Wer weiß, was ohne ihn aus mir geworden wäre. Nur ihm zuliebe wollte ich trotz allem irgendwie ein anständiges Leben führen. Ich kann’s nicht richtig beschreiben, aber ich hatte das Gefühl, ich hätte einen Anker gefunden. Also habe ich aufgehört, ein Rowdy zu sein, und bin zu den Streitkräften gegangen. Und irgendwann bin ich dann vernünftig geworden.«
»Aber Nakata hat niemanden. Und nichts. Auch keinen Anker. Lesen kann er nicht. Und sein Schatten ist auch nur halb.«
»Jeder hat seine Fehler.«
»Herr Hoshino?«
»Was ist?«
»Der normale Nakata hätte bestimmt ein ganz, ganz anderes Leben geführt. Wie seine beiden Brüder hätte er vielleicht studiert, wäre bei einer Firma angestellt, hätte geheiratet, Kinder bekommen, würde ein großes Auto fahren und an freien Tagen Golf spielen, ja? Aber weil Nakata nicht der normale Nakata ist, lebt er so wie jetzt. Und es ist zu spät, das zu ändern. Das weiß er. Trotzdem würde Nakata gern, auch nur für ganz kurze Zeit, der normale Nakata werden. Ehrlich gesagt, hat er sich bis jetzt nichts gewünscht. Nakata hat brav gemacht, was die Leute ihm gesagt haben. Oder was zufällig gekommen ist. Aber jetzt ist es anders. Nakata wünscht sich ganz klar, wieder der normale Nakata zu werden. Er möchte eigene Gedanken und eine eigene Bedeutung haben.«
Der junge Hoshino seufzte. »Wenn das dein Wunsch ist, mir soll’s recht sein. Meinetwegen kannst du wieder normal werden. Aber ich hab keine Ahnung, was für ein Nakata dieser normale Nakata sein soll.«
»Jawohl. Nakata hat auch keine Ahnung.«
»Aber ich wünsche dir, dass es klappt, und bete mit aller Kraft, dass du ein normaler Mensch wirst.«
»Aber vorher muss Nakata noch vieles in Ordnung bringen.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Die Sache mit Johnnie Walker.«
»Johnnie Walker?«, sagte der junge Mann. »Von dem hast du schon mal gesprochen. Ist das der Johnnie Walker von dem Whiskey?«
»Jawohl. Nakata ist sofort auf die Wache gegangen und hat alles erzählt. Er dachte, man müsste es dem Herrn Gouverneur melden. Aber sie haben sich nicht darum gekümmert. Deshalb kann Nakata das Problem nur aus eigener Kraft lösen. Danach will Nakata, wenn möglich, der normale Nakata werden.«
»Worum es da genau geht, kapier ich nicht, aber letzten Endes brauchst du dazu den Stein, ja?«
»Jawohl. Nakata muss die andere Hälfte von seinem Schatten wiederhaben.«
Der Donner war inzwischen markerschütternd. Blitze zuckten in verschiedenen Formen über den Himmel, und unmittelbar darauf krachten die Donnerschläge so rasch aufeinander, dass sie einander überlappten. Die Luft erzitterte, die losen Fensterscheiben klapperten nervenaufreibend. Schwärzliche Wolken überzogen wie eine Decke den Himmel, und es wurde so dunkel, dass einer das Gesicht des anderen kaum noch erkennen konnte. Dennoch schalteten sie das Licht nicht an, sondern blieben unverändert, den Stein zwischen sich, einander gegenüber sitzen. Vor dem Fenster ging ein so heftiger Regen nieder, dass ihnen beim bloßen Hinsehen die Luft wegblieb. Bei jedem Blitz wurde das Zimmer für einen Augenblick hell erleuchtet. Zeitweise konnten die beiden sich nicht einmal unterhalten.
»Aber warum musst du dich um diesen Stein kümmern? Warum ausgerechnet du?«, fragte Hoshino, als das Donnern vorerst nachließ.
»Weil Nakata einer ist, der hinein- und hinausgegangen ist.«
»Hinaus- und hineingegangen?«
»Jawohl. Nakata ist einmal von hier hinausgegangen und wieder zurückgekommen. Zu der Zeit, als in Japan der große Krieg war. Damals ging einen Moment lang der Deckel auf, und Nakata schlüpfte hinaus. In einem anderen Moment kam er dann wieder hierher zurück. Und war dann nicht mehr der normale Nakata. Auch von seinem Schatten war nur noch die Hälfte übrig. Stattdessen konnte er mit Katzen sprechen, was jetzt nicht mehr geht. Vielleicht konnte er auch machen, dass es Sachen vom Himmel regnet.«
»Wie letztes Mal die Blutegel, oder?«
»Jawohl.«
»Das kann nicht jeder.«
»Nein, nicht jeder.«
»Aber du kannst es, weil du vor langer Zeit hinaus- und hineingegangen bist? Deshalb bist du kein normaler Mensch?«
»Jawohl. Nakata ist seither kein normaler Nakata mehr. Er konnte nicht mehr lesen. Und fasst keine Frauen an.«
»Kaum zu glauben.«
»Herr Hoshino.«
»Was ist?«
»Nakata hat Angst. Wie gesagt, Nakata ist leer. Wissen Sie, Herr Hoshino, was es heißt, ganz leer zu
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