Kafka am Strand
dürfe.
»Natürlich«, sagte Oshima. »Draußen auf der Veranda können Sie in aller Ruhe mit Blick auf den Garten essen. Wenn Sie möchten, können Sie anschließend einen Kaffee haben. Das macht überhaupt keine Umstände.«
Hoshino bedankte sich. »In der Bibliothek hier geht es sehr familiär zu, nicht?«
Oshima lächelte. »Ja, sie ist ein bisschen anders als die üblichen Bibliotheken. Man könnte sie tatsächlich als familiär bezeichnen. Wir möchten eine harmonische Umgebung schaffen, in der man entspannt lesen kann.«
Er macht einen sympathischen Eindruck, dachte Hoshino. Intelligent, adrett und wohlerzogen. Außerdem sehr freundlich. Vielleicht war er schwul. Aber Hoshino hatte keine besonderen Vorurteile gegenüber Schwulen. Die Menschen hatten eben verschiedene Vorlieben. Es gab sogar welche, die mit Steinen sprechen konnten. Dass es Männer gab, die mit Männern schliefen, war im Vergleich dazu gar nicht so sonderbar.
Als sie gegessen hatten, stand Hoshino auf, streckte sich ausgiebig und ging allein an die Theke. Er bekam einen heißen Kaffee. Nakata, der keinen Kaffee trank, blieb auf der Veranda, trank seinen braunen Tee aus der Thermoskanne und schaute den Vögeln im Garten zu.
»Haben Sie denn etwas gefunden, das Sie interessiert?«, erkundigte sich Oshima.
»Ja, ich habe die ganze Zeit in einer Beethoven-Biografie gelesen«, sagte Hoshino. »Ein sehr interessantes Buch. Wenn man sich Beethovens Leben vor Augen führt, kommen einem so allerlei Gedanken.«
Oshima nickte. »Ja. Beethovens Leben war ziemlich heftig, milde ausgedrückt.«
»Er hatte wirklich ein schweres Leben«, sagte Hoshino. »Andererseits hatte er im Grunde auch selber Schuld daran, finde ich. Beethoven war gar nicht umgänglich und dachte nur an sich. Nur sich und seine Musik hatte er im Kopf. Dafür war er allerdings zu jedem Opfer bereit. Aber im Alltag ist so ein Typ doch nicht zum Aushalten. ›He, Ludwig, lass mich in Ruhe!‹ hätte ich gesagt. Kein Wunder, dass sein Neffe verrückt wurde. Aber seine Musik ist herrlich. Sie geht einem ans Herz. Komisch, oder?«
Oshima pflichtete ihm bei.
»Aber warum musste er sich das Leben nur absichtlich so schwer machen? Es hätte schon gereicht, wenn er etwas respektabler und normaler gelebt hätte, oder?«
Oshima zwirbelte den Bleistift in der Hand. »Stimmt, aber zu Beethovens Zeit war es wohl essentiell, seinem Ego freien Lauf zu lassen. Ein solches Verhalten galt in früheren Zeiten, eigentlich in allen Monarchien, als unpassend und wurde als Verstoß gegen gesellschaftliche Regeln streng unterdrückt. Durch den Aufstieg des Bürgertums im 19. Jahrhundert lockerten sich diese Zwänge mit einem Mal, und das Ich konnte sich in vielen Bereichen emanzipieren. Freiheit und Selbstverwirklichung waren Synonyme. Eine Welle von Veränderungen ergriff die Kunst, insbesondere die Musik. All die Künstler, die auf Beethoven folgten – Berlioz, Wagner, Liszt, Schumann – führten ein exzentrisches, stürmisches Leben. Exzentrizität galt zu dieser Zeit einfach als Lebensideal. Man nennt das die Zeit der Romantiker. Auf alle Fälle muss diese Lebensweise für die Leute selbst oft ziemlich anstrengend gewesen sein, glaube ich«, sagte Oshima. »Lieben Sie Beethoven?«
»Um das sagen zu können, habe ich nicht genug von ihm gehört«, gab Hoshino ehrlich zu. »Eigentlich fast nichts. Mir gefällt das ›Erzherzog-Trio‹.«
»Das mag ich auch sehr.«
»Besonders vom Million-Dollar-Trio gespielt«, sagte Hoshino.
»Mir persönlich gefällt die Version des tschechischen Suk-Trios. Sie ist wundervoll ausgewogen und duftet wie eine Brise, die über die Wiesen weht. Aber die Version von Rubinstein, Heifetz und Feuermann gefällt mir auch. Sie ist eine elegante Darbietung, die man ins Herz schließt.«
»Also Herr – äh – Oshima«, sagte Hoshino mit einem Blick auf das Namensschildchen, das auf der Theke stand. »Sie kennen sich mit Musik ziemlich gut aus, was?«
Oshima lächelte. »Auskennen ist zu viel gesagt, aber ich liebe Musik und höre viel, wenn ich allein bin.«
»Dann möchte ich Sie was fragen. Glauben Sie, dass Musik die Kraft hat, einen Menschen zu verändern? Ich meine, jemand hört irgendwann eine bestimmte Musik, und die bewirkt eine völlige Veränderung in seinem Inneren, so was in der Art?«
Oshima nickte. »Natürlich gibt es das. Wir machen eine Erfahrung, und die setzt etwas in uns in Gang. Wie bei einer chemischen Reaktion. Wenn wir uns anschließend
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