Kafka am Strand
da. Am liebsten wäre ich gestorben, irgendwohin verschwunden. In der Welt da draußen tobte noch immer dieser gewaltige, brutale Krieg, und mehr und mehr Menschen starben. Ich wusste nicht mehr, was wirklich und unwirklich war. Die Landschaft, die ich sah, die Farben, die Vogelstimmen, die ich hörte – war all das wirklich …? Und ich, allein im Wald, verwirrt, während das Blut aus meiner Gebärmutter strömte? Angst und Scham überkamen mich. Ich begann zu weinen. Nicht laut; ich weinte leise, ganz leise.
Von diesem Moment an verloren die Kinder der Reihe nach das Bewusstsein.
Gewiss verstehen Sie, dass ich diese Geschichte nicht offen vor den Angehörigen des Militärs erzählen konnte. Im Krieg lebten wir nach strengen » moralischen Prinzipien « . Also ließ ich in meinem Bericht aus, wie meine Periode begonnen, Nakata das blutige Tuch gefunden und ich ihn geschlagen hatte. Ich furchte, das hat Ihre Untersuchungen stark behindert. Dass ich heute so sprechen kann, bedeutet für mich eine Befreiung.
Das Seltsamste ist jedoch, dass sich keines der Kinder an irgend etwas erinnerte. Nicht einmal an das blutige Tuch oder daran, dass ich den kleinen Nakata geschlagen hatte. Die Erin nerung daran war ihnen allen völlig abhanden gekommen. Dessen habe ich mich kurz nach dem Vorfall persönlich bei jedem einzelnen Kind vergewissert. Vielleicht hatte zu dem bewussten Zeitpunkt bereits eine Gruppenbewusstlosigkeit eingesetzt.
Ich bin mehrmals aufgefordert worden, meine Eindrücke als Klassenlehrerin des kleinen Nakata zu Papier zu bringen. Was nach dem Vorfall aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Ich habe lediglich gehört, dass man ihn ins Militärhospital nach Tokyo brachte, wo er nach längerer Bewusstlosigkeit irgendwann wieder erwachte. Dies hat mir nach dem Krieg ein amerikanischer Offizier mitgeteilt, ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen. Vermutlich sind Sie über die genauen Umstände ohnehin besser informiert ah ich.
Wie Sie wissen, gehörte Nakata zu den fünf evakuierten Kindern in der Klasse. Er war der aufgeweckteste von ihnen und zeigte die besten Leistungen. Er war hübsch und auch witzig. Dennoch war er vernünftig und nicht im mindesten vorlaut. Im Unterricht meldete er sich nur selten von sich aus, aber sooft ich ihn aufrief, antwortete er richtig, und wenn er nach seiner Meinung gefragt wurde, dann hatte er auch eine, die nicht dumm war. In allen Fächern bewies er eine rasche Auffassungsgabe. Fast in jeder Klasse gibt es einen solchen Schüler. Diese Kinder lernen schnell und wie von selbst, schaffen es auf hervorragende Schulen und finden später problemlos einen guten Platz in der Gesellschaft. Sie sind von Natur aus begabt.
Als Lehrerin machte ich mir um Nakata dennoch Gedanken. Immer wieder beobachtete ich eine gewisse Teilnahmslosigkeit an ihm. Er stellte sich den schwierigsten Aufgaben, aber wenn er sie gemeistert hatte, freute er sich kaum an seinem Erfolg. Er keuchte nicht vor Anstrengung und probierte auch nie hartnäckig an etwas herum. Er seufzte nicht, und er lachte nicht – ah würde er nur tun, was getan werden musste. Er erledigte einfach routiniert, was ihm unterkam. So wie ein Fabrikarbeiter mit sei nem Schraubenzieher bestimmte Schrauben an den Teilen anzieht, die ihm auf dem Fließband entgegenkommen.
Ich tippe auf ein durch familiäre Umstände verursachtes Problem, kann es aber nicht mit Bestimmtheit sagen, da ich seine Eltern in Tokyo nie kennengelernt habe. In meiner Laufbahn ah Lehrerin habe ich jedoch mehrere solcher Fälle erlebt. Die besondere Begabung dieser Kinder veranlasst die Erwachsenen in ihrem Umfeld, sie unablässig mit Ansprüchen zu überhäufen. Dabei geschieht es oft, dass den Kindern, die ständig der Erledigung irgendwelcher konkreter Aufgaben nachjagen, im Laufe der Zeit ihre Spontaneität und das Gefühl für ihre Leistung verlorengeht. Unter solchen Umständen verschließen die Kinder bald ihr Herz und beginnen, ihre natürlichen Gefühlsregungen zu verbergen. Diese verschlossenen Herzen wieder zu öffnen kostet viel Zeit und Mühe. Kinderherzen sind weich und leicht verformbar, und wenn eines erst einmal hart und verkrampft ist, lässt sich das nicht so leicht wieder rückgängig machen, in vielen Fällen überhaupt nicht mehr. Aber natürlich fallen diese Dinge in Ihr Fachgebiet, und jemand wie ich braucht Ihnen davon nichts zu erzählen.
Ein weiterer Punkt: Ich nahm an Nataka den Schatten von Gewalt wahr. Mehrmals spürte ich an
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