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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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gemacht?«
    »Sonst macht es ja keiner für mich«, sagt er.
    Er gießt sich schwarzen Kaffee aus einer Thermosflasche in seinen Becher und trinkt. Ich öffne meine mitgebrachte Milchtüte.
    »Was liest du denn gerade so begeistert?«
    »Die gesammelten Werke von Natsume Soseki«, sage ich. »Es gibt noch einiges von ihm, das ich nicht gelesen habe, und jetzt habe ich die Gelegenheit dazu.«
    »Soseki gefällt dir also so gut, dass du dir vorgenommen hast, sein ganzes Werk zu lesen«, sagt Oshima.
    Ich nicke.
    Von dem Becher in Oshimas Hand steigt weißer Dampf auf. Der Himmel ist noch immer von dunklen Wolken verhangen, aber es hat aufgehört zu regnen.
    »Was hast du denn gelesen, seit du hier bist?«
    »Gerade lese ich Klatschmohn, und davor war es Der Bergmann. «
    » Der Bergmann « , sagt Oshima, als könne er sich schwach erinnern. »Das ist doch die Geschichte mit dem Studenten aus Tokyo, der eine Zeit lang in einem Bergwerk arbeitet, unter den Bergleuten lebt, harte Erfahrungen macht und wieder in die Welt draußen zurückkehrt, oder? Ein mittellanger Roman. Ich habe ihn früher einmal gelesen. Inhaltlich eigentlich nicht typisch für Soseki, der Stil ist auch ziemlich ungeschliffen. Im Allgemeinen gilt Der Bergmann als eines seiner weniger gelungenen Werke … Was findest du so interessant daran?«
    Um meine bis dahin nur vagen Vorstellungen von diesem Werk irgendwie in Worte zu fassen, brauchte ich Krähes Hilfe. Er müsste wie immer von irgendwoher auftauchen, seine Flügel ausbreiten und die richtigen Worte für mich finden.
    »Der Held ist ein junger Mann aus reichem Haus, aber wegen einer unglücklichen Liebe wird ihm alles zuwider, und er geht von zu Hause fort. Auf seiner ziellosen Wanderschaft macht ihm ein Fremder den Vorschlag, Bergmann zu werden, und er geht beinahe blindlings darauf ein. Er beginnt nun in einem Kupferbergwerk in Ashio zu arbeiten. Unter Tage erlebt er die unglaublichsten Dinge. Der weltfremde Junge kriecht in den tiefsten Niederungen der Gesellschaft herum.«
    Ich trinke von meiner Milch und ringe weiter nach Worten. Krähe lässt auf sich warten. Doch Oshima ist geduldig.
    »Es ist für ihn eine Erfahrung auf Leben und Tod. Doch irgendwie entkommt er und kehrt in sein früheres Leben über der Erde zurück. Aber in dem Buch steht nichts darüber, ob der Held aus seiner Erfahrung etwas gelernt hat, ob er seine Lebensweise ändert, über sein Leben nachgrübelt oder Zweifel am Zustand der Gesellschaft hegt. Man hat nicht den Eindruck, dass er als Mensch gewachsen ist. Als ich das Buch fertig hatte, habe ich mich gefragt, was der Autor eigentlich damit sagen wollte. Diese Frage ist mir seltsamerweise geblieben. Ich kann es nicht so gut erklären.«
    »Willst du sagen, dass Der Bergmann eine ganz andere Struktur hat als die so genannten modernen Bildungsromane wie Sanshiro? «
    Ich nicke. »In solchen schwierigen Dingen kenne ich mich nicht aus, aber das könnte sein. Sanshiro entwickelt sich im Laufe der Geschichte. Er rennt gegen Mauern, denkt so gut er kann darüber nach und versucht sie irgendwie zu überwinden. Oder? Aber der Held in Der Bergmann ist ganz anders. Er starrt nur tatenlos auf das, was ihm begegnet, und nimmt es hin, wie es ist. Natürlich macht er sich gelegentlich Gedanken, aber keine ernsthaften. Stattdessen trauert er bloß wehmütig seiner unglücklichen Liebe nach. Zumindest hat es den Anschein, als käme seine Person von den Erfahrungen in der Tiefe unberührt wieder nach draußen. Eigentlich fällt er kein eigenständiges Urteil und keine Entscheidung. Er ist völlig passiv. Andererseits ist es ja wirklich nicht so leicht, aus eigener Kraft eine Wahl zu treffen.«
    »Also identifizierst du dich bis zu einem gewissen Grad mit dem Helden aus Der Bergmann? «
    Ich schüttele den Kopf. »Das nun wieder nicht. Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen.«
    »Aber mit irgendetwas identifizieren sich die Menschen im Leben immer«, sagt Oshima. »Sie können gar nicht anders. Unwissentlich tust du das auch. Wie Goethe gesagt hat, ist die ganze Welt Metapher.«
    Ich denke darüber nach.
    Oshima nimmt einen Schluck Kaffee aus seinem Becher.
    »Jedenfalls finde ich deine Deutung von Der Bergmann höchst interessant. Und als die Ansicht eines echten Ausreißers ist sie umso überzeugender. Ich werde den Roman noch mal lesen.«
    Ich esse Oshimas Sandwich ganz auf. Dann drücke ich die leere Milchtüte zusammen und werfe sie in den Mülleimer.
    »Herr Oshima, mich

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