Kafka am Strand
einem Ausdruck oder einer Bewegung das Zeichen momentaner Angst, so etwas wie die reflexartige Reaktion auf eine über längere Zeit hinweg erfahrene Gewalt. Welches Ausmaß diese Gewalt hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Er war ein Kind mit viel Selbstbeherrschung und verbarg seine Furcht sehr geschickt vor mir. Doch manchmal konnte er ein leichtes Muskelzucken nicht kaschieren. Ich bin mir fast sicher, dass es in seiner Familie zu Gewalttätigkeiten gekommen ist. Kindern, die täglich damit zu tun haben, merkt man das in aller Regel an.
Die Familien auf dem Land sind voller Gewalt. Fast alle Eltern sind Bauern und führen ein hartes Leben. Sie schuften von morgens bis abends, trinken Alkohol und beben im Streit eher die Hand, als dass sie den Mund aufmachen. Das ist kein Geheimnis. Die Kinder stecken die Schläge mehr oder weniger unbeeindruckt weg, und seelische Schäden bleiben bei ihnen auch nicht zurück. Nakatas Vater war jedoch Universitätsprofessor, und auch seine Mutter hat, soweit ich einem Brief entnehmen konnte, den ich von ihr erhalten habe, eine höhere Ausbildung genossen. Letztlich also eine städtische Elite-Familie. Die Gewalt, die dort ausgeübt wird, ist eine ganz andere als diejenige, die Landkinder in ihrem häuslichen Alltag erleben. Die Faktoren sind komplizierter und stärker nach innen gerichtet. Mit dieser Art von Gewalt müssen die Kinder meist ganz allein fertigwerden.
Deshalb war es auch so schlimm, dass ich damals im Wald, wenn auch spontan, Gewalt gegen Nakata angewendet habe, und ich bereue das zutiefst. Ich hätte das niemals tun dürfen. Durch die Evakuierung war Nakata zwangsläufig von seinem Elternhaus getrennt worden und in eine neue Umgebung gekommen, und so hätte sich ihm damals die Gelegenheit geboten, mir allmählich sein Herz zu öffnen.
Vielleicht habe ich ihm durch meine Gewalttätigkeit unwiderruflichen Schaden zugefügt. Ich habe mir so sehr gewünscht, meinen Fehler wieder gutmachen zu können, ganz gleich, wie lange es dauern würde, doch das ließen die Umstände danach nicht zu. Nakata kam nicht wieder zu sich und wurde nach Tokyo ins Krankenhaus geschickt. Seither habe ich ihn nicht gesehen. Mein Herz ist noch immer voller Reue. Niemals werde ich den Ausdruck seines Gesichts vergessen, ah ich ihn schlug. Noch immer sehe ich die tiefe Furcht und Resignation darin ganz deutlich vor mir.
Jetzt habe ich schon so viel geschrieben und möchte doch zum Schluss noch eines berichten. Als mein Mann kurz vor Kriegsende auf den Philippinen fiel, war das eigentlich kein so großer Schock mehr für mich. Damals habe ich weder Verzweiflung noch Angst empfunden, nur tiefe Hilflosigkeit. Ich weinte nicht eine Träne, denn dass mein Mann sein junges Leben auf dem Schlachtfeld verlieren würde, hatte ich vorausgeahnt. Seit jenem heftigen erotischen Traum von meinem Mann, in dessen Folge meine Periode zur Unzeit einsetzte, seit ich Nakata im Wald wie außer mir geschlagen hatte und die Kinder mysteriöserweise in Ohnmacht gefallen waren, hatte ich mit diesem Schicksal gerechnet. Die Nachricht vom Tod meines Mannes war für mich nur noch die Bestätigung. Ein Teil meiner Seele ist in jenem Wald zurückgeblieben. Dieses Erlebnis hat alle anderen Ereignisse meines Lebens übertroffen.
Ich schließe nun, indem ich Ihnen weiterhin alles Gute für Ihre Forschungsarbeit wünsche. Passen Sie gut auf sich auf.
13
Während ich kurz nach Mittag auf den Garten blicke und mein mitgebrachtes Essen verzehre , gesellt Oshima sich zu mir. Heute bin ich der einzige Leser. Wie immer esse ich die billigste Lunchbox, die in den Läden am Bahnhof zu haben war. Wir unterhalten uns, und Oshima teilt seine Sandwiches mit mir.
»Heute habe ich eins für dich mitgemacht«, sagt er. »Nimm’s mir nicht übel, aber es sieht immer so aus, als würdest du eigentlich gern noch mehr essen.«
»Ich mache meinen Magen klein«, erkläre ich.
»Absichtlich?«, fragt er interessiert.
Ich nicke.
»Aus wirtschaftlichen Gründen?«
Wieder nicke ich.
»Ich verstehe, was du vorhast, aber wenn man wie du im Wachstum ist, sollte man lieber reichlich essen. In dieser Zeit muss man in mehrerer Hinsicht für genügend Nahrung sorgen.«
Das Sandwich, das er mir anbietet, sieht appetitlich aus, und ich nehme es dankend an. Das weiche, mit Meerrettich und Butter bestrichene Weißbrot ist mit Räucherlachs, Wasserkresse und Salatblättern belegt. Die Brotkruste ist frisch und knusprig.
»Haben Sie das selbst
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