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Kahlschlag (German Edition)

Kahlschlag (German Edition)

Titel: Kahlschlag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe R. Lansdale
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sein können.
    Während sie so vor sich hingingen, sagte Goose: »Die Hand brennt allmählich wie Feuer und wird ganz schwer.«
    Lee sah sich die Hand des Jungen genauer an. Sie war dick angeschwollen und hatte sich dunkel verfärbt. »Steck sie in dein Hemd. Mach ein paar Knöpfe auf. Steck sie rein, wie Napoleon das gemacht hat, damit sie nicht so runterbaumelt.«
    »Oh Mann, das tut weh.«
    »Ich weiß, mein Sohn. Geh einfach weiter.«
    Nachdem sie ein Stück gegangen waren, fiel Goose auf die Knie. »Mir ist ganz schwindelig. Mir ist heißer im Kopf als nem irren Köter, dem man grad einen runtergeholt hat.«
    »Das wird schon wieder.«
    Goose fiel mit dem Gesicht voran in den Staub. Lee hob ihn hoch und nahm ihn auf die Arme. Der Junge war ganz schön schwer, und schon bald musste er ihn wieder absetzen. Dann hob er ihn wieder hoch, aber diesmal warf er ihn sich über die Schulter. Auch das war nicht leicht, aber leichter, als ihn auf den Armen zu tragen. Diesmal kam er doppelt so weit, bis er stehen blieb und sich den Jungen mit großer Mühe über die andere Schulter warf.
    Goose sagte nichts mehr. Er gab auch kein Geräusch mehr von sich. Er fühlte sich sehr heiß an. Trotzdem sprach Lee mit ihm. »Wir schaffen es, mein Junge. Das kann jetzt nicht mehr so verdammt weit sein. Ich war hier schon mal, vor langer Zeit, und es sieht nicht so aus, als wäre es noch weit.«
    Doch die Straße schien kein Ende nehmen zu wollen. Lee wollte stehen bleiben, sich hinlegen. Die Schlepperei hatte ihn ausgelaugt, genau wie die Hitze, aber er stapfte weiter. Bin ich froh, dass Goose nicht fett ist, dachte er, sonst würde ich jetzt gleich umfallen und nie wieder aufstehen. Andererseits – wäre er fett, würde er vermutlich nicht laufen wie eine Gans und der Name Goose würde nicht zu ihm passen. Dann würde man ihn »Piggy« oder irgendwas Ähnliches rufen.
    Die Beine wurden ihm schwer, genau wie die Arme, aber er versuchte, sich auf die Straße vor sich zu konzentrieren, und hoffte bei jeder in der Ferne auftauchenden Biegung, dass dahinter Camp Rapture liegen würde. Er fragte sich, wie der Ort wohl heute aussah. Als er wegging, war die Siedlung erst im Entstehen, hatte kurz vorher ihren Namen bekommen und machte noch nicht viel her. Verdammt. Wie lange lag das jetzt zurück? Dreißig Jahre? Dreiunddreißig? Er konnte sich nicht genau daran erinnern. Damals war er Anfang zwanzig gewesen. Und jetzt war er Anfang fünfzig. Nein. Was dachte er denn da vor sich hin? Die Zeit war ihm entglitten. Er war vierundfünfzig. War das nun Anfang oder Mitte fünfzig? Meine Güte, dieser Junge ist schwer. Und es ist heiß, so verdammt heiß, und der Junge ist heiß. So heiß.
    Lee stolperte und fiel hin. Der Junge glitt ihm von den Schultern und knallte auf die Straße. »Oh Gott, mein Sohn, es tut mir leid«, sagte Lee. Aber der Junge hatte weder mitbekommen, dass er runtergefallen war, noch, dass jemand mit ihm redete.
    Wie Atlas, der die Welt hochstemmen musste, hob Lee den Jungen wieder hoch. Diesmal packte er ihn an einem Arm und einem Bein und lud ihn sich auf den Rücken. Eine Zeit lang ging es so besser, aber bald taten ihm Arme und Beine weh, und er dachte: Ich muss mich ein bisschen hinlegen. Aber nein. Das kann ich nicht machen. Jede Sekunde zählt. Er warf einen Blick auf die Hand des Jungen, die jetzt herabhing. Sie war schwarz und groß und sah gar nicht mehr wie eine Hand aus. Eher wie ein seltsames Fabelwesen.
    »Wir schaffen es, Goose«, sagte er und fragte sich, ob das stimmte und ob der Junge noch lebte. Während er weitertaumelte, entspannte er sich und versuchte, den Atem des Jungen zu spüren, was ihm auch gelang. Er konnte die zarte, angestrengte Bewegung wahrnehmen, mit der die Lungen des Jungen ihre Arbeit verrichteten. »Um Himmels Willen, Jesus«, sagte Lee. »Ich weiß, ich habe so manches falsch gemacht. Aber lass es bitte nicht an dem Jungen aus. Hilf mir, ihm zu helfen.«
    Jesus reichte ihm nicht die Hand. Gott stellte keine Kutsche und keinen Arzt zur Verfügung. Der Heilige Geist spornte ihn nicht an.
    Lee trottete weiter, stolperte, fiel auf ein Knie, stand wieder auf, ging weiter und sagte zu Gottvater, Gottsohn und dem Heiligen Geist: »Ihr Hurensöhne. Alle drei.«
    Dann hörte er das Geräusch. Er drehte sich um und wäre dabei fast hingefallen.
    Ein Pick-up mit Seitenbrettern an der Ladefläche kam die Straße entlanggefahren. Lee stellte sich mitten auf die Straße. Der Pick-up scherte aus und

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