Kahlschlag (German Edition)
fuhr links ran. Als er stehen blieb, klapperte etwas hinten auf der Ladefläche. Am Steuer saß eine Frau, die etwa in seinem Alter zu sein schien. Sie sah gut aus, und mitten im Haar hatte sie eine graue Strähne. Ihre Augen hatten die Farbe eisigen blauen Feuers. Sie beugte sich zur Beifahrerseite hinüber und kurbelte das Fenster hinunter. »Was ist los?«, fragte sie.
»Der Junge ist von einer Schlange gebissen worden.«
»Einer Giftschlange?«
»Seine Hand ist richtig angeschwollen, so groß wie mein Kopf. Er meinte, es wäre eine Mokassinschlange gewesen.«
»Steigen Sie ein.«
Lee tat, wie ihm geheißen, und legte sich den Jungen auf den Schoß. Er nahm ihm die engsitzende Kappe ab, strich ihm das Haar aus den Augen und wischte sich dann mit der Kappe den Schweiß aus der Stirn. Die Hand mit der Bisswunde legte er dem Jungen auf die Brust. Die Hand war schwarz und sehr groß. Sie sah aus, als würde sie explodieren, wenn man sie berührte. Lee rollte dem Jungen die Ärmel hoch. Rote und blaue Linien zogen sich den Arm hinauf. »Sehen sie, wie es ihn erwischt hat«, sagte er.
Marilyn warf einen Blick auf den Arm des Jungen und fuhr los.
»Ich dachte, wenn ich es schaffe, ihn nach Camp Rapture zu bringen, zu einem Arzt, dann hätte er vielleicht eine Chance«, sagte Lee.
»Er hat eher eine Chance, wenn wir ihn zu Aunt Cary bringen. Sie ist Hebamme, aber sie kennt sich mit Schlangenbissen und allen möglichen Sachen aus, von denen ein Arzt keine Ahnung hat. Sie ist wohl selbst so was wie ein Arzt.«
»Ich hoffe, Sie haben recht.«
»Sie wohnt auch nicht so weit entfernt.«
»Camp Rapture ist viel weiter weg, als ich das in Erinnerung hatte.«
»Wann waren Sie denn das letzte Mal da? Wie lange ist das her?«
Er sagte es ihr.
»Es gab eine Straße, die direkt dorthin führte«, erklärte sie ihm. »Aber der Fluss hat sie immer wieder unterspült, also haben sie eine neue gebaut. Diese hier hat mehr Kurven, aber sie steht auch nicht so oft unter Wasser.«
»Sind Sie sich mit dieser Aunt Cary ganz sicher?«
»Die hat schon vielen Leuten geholfen und bereits alles Mögliche gemacht. Einmal hat sie in Camp Rapture einem Kind auf die Welt geholfen, indem sie der Mutter den Bauch aufgeschnitten hat. Das Kind hat überlebt, und die Mutter auch. Aunt Cary hat sie mit Angelschnur zugenäht, und sie hat sich wieder erholt. Bei so was und bei dem hier traue ich ihr mehr zu als einem Arzt. Außerdem wohnt sie nicht weit weg, und was immer dieser Junge braucht, er braucht es sofort.«
Sie bogen von der Hauptstraße ab und fuhren einen schmalen Weg entlang. Der Pick-up holperte und rumpelte vor sich hin, und die Sachen hinten auf der Ladefläche klapperten. Lee wandte den Kopf und sah durch das rückwärtige Fenster einen Lochspaten, eine Schaufel und eine Axt herumhüpfen. Er wünschte sich, sie würden hinten runterfallen. Von dem Krach bekam er Kopfschmerzen.
Zuerst fuhr Marilyn ziemlich schnell, aber der Weg war einfach zu schmal für das Tempo, also drosselte sie es wieder.
»Er atmet komisch«, sagte Lee.
»Schlangenbisse beeinträchtigen die Lunge«, entgegnete Marilyn. »Sie beeinträchtigen alles Mögliche, aber die Lungen gehören auch dazu. Es geht so weit, dass man nicht mehr atmen kann, und dann wird das Gift ins Herz gepumpt.«
Der Wald wurde dichter. Lange Ranken hingen von dunklen, krummen, dornigen Bäumen. Marilyn bog in einen noch schmaleren Weg ein, und sie gelangten zu einer Lichtung, auf der ein altes Haus stand. Es war klein, und die Veranda hing durch. Der Hof war übersät mit Wagenteilen, Pflügen, einem Holzblock, in dem eine Axt steckte, und allerhand Hühnerfedern.
Marilyn parkte den Wagen in der Nähe der Veranda, stieg aus und rief: »Aunt Cary. Sind Sie da? Hier ist Marilyn Jones. Sind Sie da? Wir haben hier einen Notfall.«
Die Tür öffnete sich, und Uncle Riley trat auf die Veranda, gefolgt von seinem Sohn Tommy.
»Das ist ihr Mann, Uncle Riley«, sagte Marilyn zu Lee. »Und ihr Sohn Tommy.«
Lee fiel auf, dass Uncle Riley viel zu jung aussah, um Onkel genannt zu werden. Er war ein großer, kräftiger Mann mit rasiertem Schädel. Seine Hose war zu kurz und zu eng und das weiße T-Shirt fleckig. Der Junge war barfuß und trug eine Latzhose. Er hatte lange Haare, und die Locken standen nach oben wie gesprungene Federn.
»Wie geht’s Ihnen, Miss Marilyn?«, fragte Uncle Riley. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Den Jungen hier hat eine Schlange gebissen, Uncle Riley. Eine
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