Kahlschlag (German Edition)
dich selbst. Ich denke, das hast du dir verdient.«
Bis Sunset wieder bei ihrem Zelt ankam, waren auch Hillbilly und Clyde eingetroffen. Hillbilly hatte etwa zwei Meilen entfernt unten am Fluss sein Lager aufgeschlagen und konnte die Strecke gut zu Fuß zurücklegen, aber Sunset hatte Clyde am Abend vorher überredet, ihn abzuholen. Clyde hatte das nicht gefallen, aber schließlich hatte er eingewilligt. Sie hatte ihm bloß in die Augen sehen, lächeln und ein bisschen flirten müssen. Hinterher hatte sie sich zwar so klein wie ein beinamputierter Floh gefühlt, aber getan hatte sie es trotzdem, und da es so erfolgreich war, konnte sie sich auch vorstellen, es wieder zu tun. Sie stieg aus und sagte: »Hallo, Jungs.«
Sie grüßten zurück, und Ben kam herbei, um sich den Kopf streicheln zu lassen. Als Sunset hochsah, fiel ihr auf, dass Clydes Haare völlig verfilzt unter seinem Hut hervorquollen. Die Ärmel hatte er halb hochgerollt, die Hose hing auf Halbmast, und mit den Bartstoppeln sah sein Gesicht richtig schmutzig aus. Hillbilly wirkte, obwohl er am Fluss schlief, als hätte er seine Kleidung gebügelt. Sein Haar war gekämmt, er war sauber rasiert und machte einen hellwachen Eindruck. Diesmal hatte er nicht getrunken. Clyde dagegen sah aus, als käme er gerade von einer Zechtour zurück, obwohl sie das nicht glaubte. Eher fühlte er sich wohl so. Vielleicht tat es ihm leid, dass er sein Haus abgebrannt hatte.
Als die beiden zu ihr herüberkamen, wollte sie ihnen schon von Bull erzählen, beschloss dann aber, es lieber bleiben zu lassen. Sie war sich nicht sicher, warum. Ihre Begegnung mit Bull erinnerte sie daran, wie sie als Elfjährige mal im Wald Beeren gepflückt hatte und dabei auf einen kleinen schwarzen Bären gestoßen war, der gerade einen Hickorynussbaum zu entwurzeln versuchte. Als er sie bemerkte, hörte er auf, drehte sich zu ihr um und erhob sich auf die Hinterbeine. Eine Minute lang starrten sie sich gegenseitig an, dann ließ sich der Bär auf alle vier Pfoten fallen und lief direkt auf sie zu. Sie war wie gelähmt. Der Bär näherte sich ihr bis auf wenige Zentimeter, reckte die Nase vor und schnüffelte. Auch Sunset konnte den Bären riechen, ein erdiger Duft nach Schlamm, Dung und Urin. Vielleicht roch sie für den Bären genauso eklig wie er für sie.
Als sich seine Nasenlöcher mit ihren Ausdünstungen vollgesogen hatte, lief er an ihr vorbei und verschwand im Wald. Es war ein unglaublicher Moment, und sie hatte nie jemandem davon erzählt. Nicht, dass es viele gegeben hätte, denen sie davon hätte erzählen können. Ihre Mutter war damals zwar noch da gewesen, aber die meiste Zeit betrunken und völlig weggetreten, also hätte sie es ihr sowieso nicht erzählt, denn es wäre sinnlos gewesen. Ihre Mutter hätte höchstens gedacht: Dann hast du also einen Bären gesehen, na und? Tatsache war, dass Sunset es auch niemandem erzählt hätte, wenn da jemand gewesen wäre, dem sie es hätte erzählen können. Es war ein ganz besonderer Moment in ihrem Leben gewesen, der ihr immer noch viel bedeutete.
Die Begegnung mit Bull empfand sie genauso. Zumindest im Augenblick. Sie würde das erst mal für sich behalten. Wie er viel geschickter noch als der Bär aufgetaucht und wieder verschwunden war. Und im Mund hatte sie immer noch den ekligen Whiskygeschmack, ein würziges Feuer aus zerbrochenem Glas und schlüpfrigen Sünden.
»Heute teilen wir uns auf«, sagte sie. »Hillbilly, du kommst mit mir mit. Clyde, ich möchte, dass du zu Zendo fährst. Sieh zu, ob du etwas über das Land rausfinden kannst, das an seins angrenzt, da, wo die Leiche entdeckt wurde.«
»Warum?«, fragte Clyde.
»Vielleicht gibt es da irgendeinen Zusammenhang. Hillbilly und ich fahren zum Gericht, um zu sehen, ob diese Papiere, die wir gefunden haben, etwas zu bedeuten haben. Um rauszukriegen, warum sie nicht im Gericht sind und ob sie dort sein sollten.«
»Bis Mittag bin ich fertig«, entgegnete Clyde. »Sogar früher. Warum fahren wir nicht zusammen zu Zendo, und anschließend nach Holiday?«
»Ich denke, so können wir in kürzerer Zeit mehr abklären.«
»Aha. Zeit sparen nennt man das jetzt«, sagte Clyde.
»Clyde, das reicht. Du arbeitest für mich. Wenn du die Arbeit nicht willst, dann lass es bleiben. Ich bitte dich, etwas zu erledigen, was erledigt werden muss.«
»Das ist nicht alles, worum Sie mich bitten.«
»Sie ist die Chefin«, mischte sich Hillbilly ein. »Du selbst hast mir das
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