Kain
Bettgeschichte reduzierte, der die offizielle Geschichte, wie wir inzwischen wissen, keine einzige Zeile widmen wird. Kain erbat sich von Lilith einen Esel, und sie ordnete an, ihm den besten, den fügsamsten, den robustesten zu geben, der sich im Stall des Palastes fand. Und bei diesem Stand der Dinge breitete sich in der Stadt die Nachricht aus, dass der Verrätersklave und seine Kumpane entdeckt und gefasst worden waren. Zum Glück für die empfindlichen Menschen, die den Blick von unangenehmen Schauspielen jeglicher Art immer abwenden, gab es weder Verhöre noch Folterungen, was vielleicht an Liliths Schwangerschaft lag, denn nach Ansicht maßgeblicher ortsansässiger Fachleute hätten nicht nur das Blut, das unweigerlich geflossen wäre, sondern auch die grässlichen Schreie der Gefolterten ein böses Omen für die Zukunft des werdenden Kindes bedeuten können. Auch sagten diese Fachleute, im Allgemeinen Hebammen mit langjähriger Erfahrung, dass Babys im Mutterleib alles hören, was draußen geschieht. Das Ergebnis war eine nüchterne Hinrichtung am Galgen vor der gesamten Einwohnerschaft der Stadt, gleichsam zur Warnung, Aufgepasst, dies ist das Mindeste, was euch allen widerfahren kann. Noah, Lilith und Kain, Letzterer als Opfer des vereitelten Attentats, wohnten auf einem Balkon des Palastes der Strafvollstreckung bei. Es fiel auf, dass nicht Noah, wie es das Protokoll verlangt hätte, die Mitte der kleinen Gruppe einnahm, sondern Lilith, wodurch sie ihren Mann von ihrem Geliebten trennte, als wollte sie sagen, dass sie ihren offiziellen Ehemann zwar nicht liebe, wohl aber zu ihm halte, denn das wünsche sich offenbar die Öffentlichkeit und sei im Interesse der Dynastie erforderlich, und dass sie vom grausamen Schicksal, Du wirst unstet auf Erden umherirren, gezwungen sei, Kain gehen zu lassen, ihm aber durch das erhabene Gedächtnis des Körpers verbunden bleiben werde, durch die unauslöschliche Erinnerung an die überwältigenden Stunden, die sie mit ihm erlebt hatte, so etwas vergisst eine Frau nie, im Gegensatz zu den Männern, an denen alles abgleitet. Die Leichen der Übeltäter werden hängen bleiben, bis von ihnen nur noch die Knochen übrig sind, denn ihr Fleisch ist verflucht, und würde man sie begraben, würde die Erde sich in Zuckungen aufbäumen und sie schließlich immer und immer wieder ausspucken. In dieser Nacht schliefen Lilith und Kain ein letztes Mal miteinander. Sie weinte, er umarmte sie und weinte auch, doch die Tränen währten nicht lange, im Nu überkam sie die Liebesleidenschaft, bemächtigte sich ihrer und trieb sie zur Raserei, zum Absoluten, als wäre die Welt nur dies, zwei Liebende, die einander unaufhörlich verzehren, bis Lilith sagte, Töte mich. Ja, vielleicht müsste dies das logische Ende der Liebesgeschichte von Kain und Lilith sein, doch er tötete sie nicht. Er küsste lange ihre Lippen, dann erhob er sich, sah sie noch einmal an und begab sich für den Rest der Nacht auf seine Türhüterpritsche.
6
T rotz der grauen Dunkelheit kurz vor Tagesanbruch sah man, dass die Vögel, nicht die liebenswerten geflügelten Geschöpfe, die schon bald ihren Gesang der Sonne entgegenschmettern werden, sondern die brutalen Raubvögel, die von Schafott zu Schafott fliegen, mit ihrer öffentlichen Säuberungsarbeit an den frei zugänglichen Körperteilen der Gehenkten begonnen hatten, den Gesichtern, Augen, Händen, Füßen, den Beinen, wo die Tunika sie nicht mehr bedeckte. Zwei Eulen, aufgeschreckt vom Hufgetrappel des Esels, flatterten mit leisem, nur für geübte Ohren wahrnehmbarem Rascheln von den Schultern des Sklaven auf. Im Tiefflug bogen sie in eine schmale Gasse neben dem Palast ein und verschwanden. Kain drückte seinem Esel die Fersen in die Flanke, ritt über den Platz, überlegte, ob er auch dieses Mal dem Alten mit den beiden Schafen am Strick begegnen würde, und zum ersten Mal fragte er sich, wer diese unverschämte Person sein mochte, Vielleicht ist es der Herr, der würde das ohne weiteres fertigbringen, mit seiner Vorliebe, überall plötzlich zu erscheinen, murmelte er. An Lilith wollte er nicht denken. Als er auf seinem trostlosen Türhüterlager aus einem unruhigen, ständig unterbrochenen Schlaf erwacht war, hatte ihn ein plötzlicher Impuls fast dazu gebracht, das Schlafgemach zu betreten für ein letztes Abschiedswort, einen letzten Kuss und wer weiß, was außerdem hätte geschehen können. Noch war Zeit. Alle im Palast schlafen, nur Lilith liegt
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