Kains Erben
bestehen lassen. So wie Euch, mein Vater! Auch Ihr gestattet Euch niemals Schonung, Ihr schlagt die Wärme des Abtshauses aus, und kein anderer ist gegen sich selbst so unerbittlich wie Ihr.«
Randulph wusste, dass er Hamo hätte tadeln müssen. Einem einfachen Chormönch stand ein Urteil über die Lebensführung des Abtes nicht zu, vor allem hätte er den jungen Heißsporn zu Gehorsam zwingen müssen, um ihn vor sich selbst zu bewahren. Wieder einmal aber war er dazu nicht fähig gewesen, weil er nur allzu gut wusste, dass das Vorbild, das er als Abt bot, schwerer wog als jedes seiner Worte. Erst Tage zuvor hatte Prior Francis gewagt, ihn darauf hinzuweisen: »Es steht mir nicht zu, Euch zu mahnen, mein Vater, doch der Raubbau, den ihr an Euren Kräften treibt, macht mir Angst. Dass die jüngeren Mönche Euch darin nacheifern, ist ebenfalls bedenklich. Ich weiß, Ihr begebt Euch stets ohne Schonung in die Passionszeit des Herrn, doch auch Ihr seid nur aus Fleisch …«
»Ihr habt ganz recht«, war ihm Randulph ins Wort gefahren. »Es steht Euch nicht zu, mich zu mahnen, und noch weniger, mir vorzuschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe, und wenn Ihr hundertmal überzeugt seid, an meiner Stelle hätte Euch die Stellung des Abtes gebührt.« Sogleich hatte er seine Worte, die jeder Grundlage entbehrten, bereut. Nachtwachen und Fasten mochten seinen Körper schwächen, doch der Jähzorn blühte in alter Kraft.
Wenn die Beleidigung Bruder Francis getroffen hatte, so ließ er es sich nicht anmerken. Drei Tage später, in der Morgenfrühe des Palmsonntags, fehlte Bruder Hamo bei der Prim. Bruder Edmund stieg über die Nachttreppe zurück, um ihn zu holen, und fand ihn tot und kalt auf seiner Pritsche.
Ich habe einen meiner Schutzbefohlenen auf dem Gewissen, klagte Randulph sich an. Ich habe den Aufruhr über ihn bestimmen lassen, nicht die Vernunft. Nach all den Jahren bringe ich meine Dämonen noch immer nicht zum Schweigen, und die, die ich hüten soll, sind ihnen ausgeliefert. Die, die mir Gehorsam schulden und sich nicht wehren können.
Die Gemeinschaft der Brüder hätte gerade jetzt seiner Führung bedurft, aber Randulph zog sich mehr denn je zurück. Er verbrachte die ersten drei Tage der Karwoche in Klausur. Am Gründonnerstag wusch er den Mönchen in der Messe die Füße, doch er erlaubte durch keinen Blick und keine Geste Nähe. Anschließend zogen sich die Brüder in eine der Seitenkapellen zurück, um die Nacht hindurch zu wachen, wie ihr Herr Jesu es in Gethsemane in der finsteren Nacht vor seinem Tod getan hatte.
Statt sich ihnen anzuschließen, ging Randulph in die Fremdenkapelle. Jesus war allein gewesen in jener Nacht, sosehr er seine Jünger angefleht hatte, mit ihm wach zu bleiben. Auch Randulph wollte allein sein. Der Trost menschlicher Nähe, der sogar dem Erlöser verwehrt geblieben war, stand ihm nicht zu, und er fühlte sich fremd in der Welt, die ihn umgab.
Dass jeder dieser Gedanken in sich eine Sünde war, wusste er. »Herr in deiner Gnade, nimm die sündigen Gedanken von mir«, begann er sein Gebet, kaum dass seine Knie den eisigen Boden berührten. Es erging ihm wie so oft in den letzten Wochen: Das Gebet brach nach dem ersten Satz ab und ließ sich nicht fortsetzen, weil lautere Stimmen sein verzagtes Wispern übertönten.
Die Stimmen der Selbstvorwürfe und der Furcht.
Hätte ich Bruder Hamo einen Befehl erteilt, wie es meine Pflicht gewesen wäre, hätte ich ihm Fleischbrühe einflößen lassen, hätte ich ihm wollene Hosen unter der Kutte aufgezwungen, er wäre noch am Leben. Er hätte seine Grenzen nicht missachtet, wenn ich nicht meinen Mönchen ein Vorbild wäre, das sie an Leib und Seele gefährdet: Wenn ich nicht vermessen wäre und versuchte, eine Strafe vorwegzunehmen, die zu vollstrecken allein Gott obliegt.
Randulph zwang seine Gedanken zu Christus in Gethsemane. Er hatte gewusst, dass ihm der Tod bevorstand, hatte gegen die Todesangst gekämpft, bis er Blut schwitzte, und die Freunde, die er auf Erden geliebt hatte, angefleht: Meine Seele ist betrübt bis in den Tod. Bleibt hier, und wacht mit mir .
Lasst mich in dieser schwarzen, unsäglichen Nacht nicht allein.
Nie zuvor, fand Randulph, und nie danach war Jesus so sehr Mensch. Nie war es einfacher, sich von Mensch zu Mensch an ihn zu wenden! Jesus, der du so sehr Mensch geworden bist – hast du Schuld auf dich geladen? In der Verzweiflung dieser Nacht – hat es dich gequält, dass dein Vorbild deine
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