Kains Erben
Juden liegt, wird einer gleichgestellt, die es mit Tieren tut!«
Sie sah seine schwarzen Augen vor ihren und schrie noch einmal auf, dann holte sie aus und schlug ihm mit aller Kraft die Fäuste ins Gesicht. Gleich darauf gaben ihre Beine nach, und sie stürzte vornüber in den Schnee.
Als sie zu sich kam, schlossen sich Arme um sie und zogen sie aus der eisigen Kälte an einen warmen Leib. Sie öffnete die Augen und blickte durch Tränenschleier auf. Matthews Gesicht war müde, auf seiner Lippe Blut, in seinem Haar Schnee, der im Handumdrehen schmolz. »Hab keine Angst«, sagte er leise. »Hab bitte keine Angst.«
»Lass mich los«, presste sie kaum verständlich heraus.
Er gehorchte, aber nicht ohne sie an seine Schulter zu lehnen, sodass sie nicht noch einmal in den Schnee fiel. »Ich habe Randulph gelobt, dich nach Fountains Abbey zu bringen«, sagte er. »Du wirst dort sicher sein, und wenn du nicht mit mir gehen willst, finde ich jemanden, der dir an meiner statt Geleit gibt.«
Ihre Kraft würde nicht genügen, um sich auf die Füße zu rappeln, erkannte Amicia. »Bring mich ins Haus«, krächzte sie. »Und dann geh.«
»Willst du das wirklich?«, fragte er. »Deinen Glauben lassen? Warum, Amicia? Weil du als Jüdin leben möchtest? Weil du einen jüdischen Mann liebst? Oder weil du mich bestrafen willst und glaubst, du hast keine andere Möglichkeit?«
Amicia fuhr unter der Frage zusammen wie unter einem Schlag. Verzweifelt suchten ihre Augen nach Vyves. Er stand einen Schritt weit hinter ihr und sah auf sie hinab. Warum kam er nicht zu ihrer Rettung? Warum sagte er ihr nicht, was zu tun war?
»Es tut mir leid, mein Lieb«, murmelte er. »Dieselbe Frage hätte auch ich dir stellen müssen. Es war selbstsüchtig und grausam, es nicht zu tun.«
»Nein, Vyves.« Sie streckte die Hand nach ihm aus. Er ging in die Hocke, nahm ihre Hand in seine und legte sie an seine Wange. Seine Haut war nass.
Über Amicias Kopf hinweg sah er Matthew an. »Ich will, dass Ihr mir schwört, sie nach Fountains Abbey zu bringen, und dass Ihr sie mit Eurem Leben schützt«, sagte er. »Einerlei, wer es ist, der sie bedroht. Schwört Ihr es nicht, so werdet Ihr sie nicht mitnehmen können, ohne mich zu erstechen.«
Behutsam fasste Matthew Amicia noch einmal bei den Schultern, gab sie Vyves in die Arme und stand auf. »Ich schwöre es«, sagte er.
»Gebe Gott, dass sie in der Abtei Ruhe findet, um ihre Entscheidung zu treffen«, sagte Vyves. »Gebe Gott, dass ihr kein Wissen vorenthalten wird, das dazu nötig ist.«
Amicia konnte zu alledem nichts sagen, weil sie so sehr weinte, dass sie trotz Schniefen und Schnappen keine Luft bekam. Mit seiner bloßen Hand rieb Vyves ihr die Tränen vom Gesicht. Es nützte nichts. Es kamen gleich wieder neue. Aber Amicia war sicher, dass sie seine Zärtlichkeit bis ans Ende ihres Lebens spüren würde.
»Nimm dir Zeit«, sagte er. »Und schreib mir, wenn du mich brauchst. Ich gehe nirgendwohin und habe keine Eile. Ich liebe dich und wünsche mir nichts so sehr, wie dass du glücklich wirst.«
Sie wollte ihn küssen, so wild und so innig, wie er es verdiente, sie wollte ihm versprechen, wiederzukommen, aber jeder Versuch erstickte in Fontänen von Tränen. Vyves stand mit ihr auf, löste sacht ihre Hände, die sich in seine Schultern krallen wollten, und schob sie hinüber zu Matthew.
Matthew hielt ihr den Arm hin, um sie zu stützen, ansonsten berührte er sie nicht. Vor dem Zaun packte er sie, hob sie hinüber, ließ sie jedoch sofort wieder los. Über den Zaun hinweg sah er sie an. Noch immer durch Schleier erkannte sie die Bitte in seinen Augen. Das Flehen. Seine Lippen formten ihren Namen ohne einen Laut.
Amicias Nacken war steif und schmerzte. Sie ließ den Mann, den sie von klein auf liebte und dem sie völlig vertraute, zurück und ging mit dem, den sie fürchtete wie nie zuvor, auf einen unbekannten Weg. Dennoch nickte sie.
Mit einem Satz schwang Matthew sich über den Zaun.
Amicias Hände ballten sich zu Fäusten. Er blieb vor ihr stehen, ohne die Augen abzuwenden, und schützte sich nicht. Sie musste ihn ansehen, ihren Blick über sein Gesicht jagen lassen und dann den Hals und die Brust hinunter wie über die Seite eines Buches, auf der man ein alles entscheidendes Wort sucht. Jeder Zug, jede Linie enthielt eine Botschaft, die ihr Körper längst entziffert hatte. Sie hörte sich stöhnen.
Als Matthew den Mund öffnete, um etwas zu sagen, schnitt Gebell ihm das Wort ab.
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