Kains Erben
Ja, dachte er und musste vor Verblüffung lächeln. Daran erkennen wir einander. An dieser unglaublichen Verwundbarkeit. Aber die Amsel, das Geschöpf, das ihn ebenfalls daran erkannt und sich auf ihn verlassen hatte, war nicht mehr hier. Schon mehr als ein Jahr nicht mehr. Er sah das Kind, das in den ersten Frühlingstagen auf den Wiesen herumgesprungen war, das den Raureif von den Halmen gestreift und erfrorene Knospen in seinen kleinen Händen gewärmt hatte, noch immer vor sich. Er hatte sie weggeschickt. Vielleicht in den Tod. Seit einem Jahr, Sommer, Herbst und Winter und noch einmal Frühling, hatte er nichts von ihr gehört.
»Warum schreibt Ihr nicht Abt Henry?«, fragte Bruder Francis.
»Lest Ihr Gedanken, oder habe ich lauter gedacht als gewollt?«, fuhr ihm Randulph recht unwirsch, aber nicht ohne Schmunzeln ins Wort.
»Vielleicht ein wenig lauter«, erwiderte der Prior. »Ich habe gute Ohren. Was nun Abt Henry betrifft …«
»Ich schreibe ihm nicht, weil ich die Antwort fürchte«, gestand Randulph. »Solange ich nicht mit eigenen Augen lesen muss, dass das Mädchen nie in Fountains angekommen ist, kann ich mir zumindest ab und an vormachen, es wäre dort in Sicherheit und führte ein erfülltes Leben.«
»Und wenn die Amsel genau das tut? Nur nicht in Fountains? Gibt es nicht jemanden dort, den Ihr unter der Hand bitten könntet, Euch Bescheid zu geben, wenn er irgendetwas von ihr weiß?«
Randulph schüttelte den Kopf, dann aber hielt er mitten in der Bewegung inne. Doch, es gab jemanden. Jäh wurde ihm klar, dass er die Amsel nach Yorkshire geschickt hatte, weil er dort einen Menschen kannte, der sich ihrer annehmen würde, gleichgültig ob sie das Leben im Kloster wählte oder Hilfe brauchte, um einen anderen Weg einzuschlagen. Die Zelle der Schwestern, die bei Fountains Abbey begründet worden war – insgeheim hatte er immer gewusst, in wessen Händen die Zügel lagen.
»Es gibt niemanden?«, hakte Francis nach.
»Doch«, erwiderte Randulph. »Margaret. Ich werde ihr schreiben.«
Er würde es tun. Es geht nicht um das, was vergangen ist, würde er schreiben. Sondern um die Zukunft eines Mädchens, das an alledem keine Schuld trägt. Hilf ihr, wenn du kannst. Du und ich haben keine Kinder, keinen, der nach uns kommt, aber dieses junge Mädchen hat mit uns zu tun und braucht uns.
»Margaret ist … eine Freundin?«, fragte Francis mit Vorsicht.
Randulph zögerte, ehe er sich entschied zu nicken. »Sie war die kleine Schwester, wo ich der kleine Bruder war. Im Grunde spielten wir beide keine Rolle im Getriebe, sondern standen am Rand, schauten zu und fürchteten uns. Dabei geschah es, dass unsere Hände sich ineinanderschoben.« Ein wenig müde lachte er auf. »Vielleicht habe ich sie verherrlicht und gar nicht richtig gekannt. Aber verrückterweise bin ich dennoch überzeugt, dass sie das Zeug hat, auf zisterziensische Weise zu leben und eine Gemeinschaft zu leiten.«
»So wie Ihr«, sagte Bruder Francis.
Randulph wandte sich ihm zu, teilte sich ein langes Schweigen mit ihm und sagte dann mit halbem Lächeln: »Ich habe Euch dazu verleitet, an einem Ort zu schwatzen, an dem Ehrfurcht und Stille geboten sind. Wenn Ihr einverstanden seid, lasse ich dieses eine Mal sowohl Euch als auch mich straffrei ausgehen.«
Francis verneigte sich. »Ich danke Euch, mein Vater. Es wäre mir nicht recht angenehm gewesen, wenn einer von uns den anderen hätte prügeln müssen.«
»Ich hätte mich, fürchte ich, reichlich ungelenk angestellt. Und zu danken habe ich Euch.«
»Nicht der Rede wert.« Francis vollführte eine wegwerfende Geste. »Lasst Ihr es mich wissen, wenn Ihr etwas von der Amsel erfahrt?«
Randulph nickte. »Ich schreibe Margaret und bitte sie um Hilfe.« Dass das bedeutete, Margaret wissen zu lassen, wer das Mädchen war, schreckte ihn nicht mehr. Und wenn Margaret ihm nicht half, würde er überlegen, wen er stattdessen darum bitten konnte. So zu tun, als hätte es das Mädchen in seinem Leben nie gegeben, hatte keinen Sinn. Es hatte in seinem Leben Menschen gegeben. Mochten die Brüder, für die er zu sorgen hatte, an seinen Wunden, nicht an einem falschen Heiligenschein erkennen, dass er ihresgleichen war.
28
A
micia schämte sich vor Tom und Dolasilla und auch vor ihren Gefährten, weil sie ihnen Sorge bereitet hatte. Die Wirtsleute hießen sie jedoch willkommen, als sei sie nicht länger als einen halben Tag fort gewesen, und die drei anderen reagierten auf ihre übliche
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