Kains Erben
Jünger ins Verderben führte, dass ein junger Mann mehr auf sich nahm, als er verkraften konnte? War es dir ernst mit dem Menschwerden, Jesus? Du bist gestorben wie wir, in der einsamen Nacht von Gethsemane hast du dich bereiterklärt, die Bitterkeit des Kelchs mit uns zu leeren. Aber hast du geliebt wie wir? Hast du dir das Herz gebrochen für einen von uns? Wie kann Sterben schwer und die Nacht von Gethsemane schwarz für einen sein, der nichts zu verlieren hat?
Randulph würde wahrhaftig nie aufhören können, die Karwoche zu fürchten. Das Entsetzen des Palmsonntags. Das Wissen um den Tod, gegen den die Auferstehung blass und ungreifbar stand. Die Einsamkeit von Gethsemane.
Mein Herr Jesus, hast du auch diesen Kelch bis zum Ende mit uns geleert? Du lehrst uns, nichts zu begehren – aber wer hätte dann Grund, in Gethsemane oder hier, auf dem kalten Boden einer Kapelle von Quarr, den Tod zu fürchten?
Hast du zusehen müssen, wie einer deiner Brüder dem anderen die Kehle durchschnitt, und du standst dabei und konntest nichts dagegen tun? Hast du je einen Menschen, den du innig liebtest, fortgeschickt und seinem Schicksal überlassen? Jesus, Jesus, der du verzweifelt warst in Gethsemane – hast du je um einen von uns auch nur eine Nacht lang Angst gehabt?
Erschöpft hielt Randulph inne. Sein Gebet war eine Anklage, keine Bitte in Demut. Schon gar kein Dank für das ungeheure Opfer, das der Erlöser für sie alle gebracht hatte. Obgleich sie dem Anlass nicht entsprach, vollzog Randulph eine Venia. Die Geste der Erniedrigung tat ihm wohl, umso mehr, als jeder seiner Knochen dabei schmerzte. Er widmete sie Maria, der der Altar geweiht war und die ihm so viel menschlicher erschien als ihr Sohn. Frei zu ihr beten konnte er nie, weil sie die Mutter Gottes war und er der letzte von drei Söhnen, der mit seiner Geburt seiner schönen italienischen Mutter den Tod gebracht hatte. Maria die Ehre erweisen konnte er. Ave Maria, gratia plena . Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade. Wenn jemals ein Heiliger wie ein Menschenwurm gelitten hat, dann du. Du hast um deinen Sohn gefürchtet wie jede irdische Mutter, jeder irdische Vater. Du hast ihn verloren, du hast dir die Kleider zerrissen, und du hast nie mehr aufgehört, um ihn zu weinen.
Was ihn auf den Boden warf – Entkräftung oder Verzweiflung –, wusste er nicht. Ehe er begriff, wie ihm geschah, lag er schon flach auf Bauch und Brust wie an dem Tag, an dem er sich vor der gesamten Gemeinschaft in den Staub geworfen hatte, um das Gelübde zu leisten. Ich werde keusch sein, ich werde gehorsam sein, ich werde bitterlich arm sein. Ich werde nie wieder mit einem prächtigen Vogel jagen, nicht mehr unverfroren einem Paar sich wiegender Hüften nachlechzen, keinen blutdunklen Wein mehr vor Genuss auf der Zunge behalten, wie um ihn dort zu schmelzen. Vor allem: Ich werde von keinem Kind mehr träumen. Und darüber hinaus: Ich werde schweigen.
Er hatte so lange geschwiegen, dass sich all die ungesprochenen Worte jetzt in einer Sintflut Bahn brachen. Unter der Wucht des Ansturms zerbrachen die Worte, und was aus seinem Mund herausplatzte, waren Silben, Laute, Fetzen ohne Sinn und Zusammenhang. Seine Fäuste trommelten auf den Boden, seine Füße traten ins Leere, seine Stirn schlug auf den kalten Stein. Seine Gebete waren an der Hoffnungslosigkeit zerschellt, an der Schuld und am Schweigen. Das einzige Wort, das er noch an Gott richten konnte, war der gebrüllte Beginn des zweiundzwanzigsten Psalms, der vor der stillen Nacht von Gethsemane verlesen wurde: Mein Gott, mein Gott – warum hast du mich verlassen? Ich heule. Aber meine Hilfe ist fern.
So schrien nur Menschen, die wussten, dass ihnen niemand zur Seite sprang, dass niemand sie aufheben und ihnen die Tränen aus den blinden Augen reiben würde. Dass doch jemand kam, dass er sich bei den Schultern umfangen und an einen knochigen Körper gezogen fühlte, musste seiner Einbildung entspringen. Jemand richtete ihn in kniende Stellung auf und wisperte ihm kleine Worte des Trostes ins Ohr, wie Gregory es getan hatte, wenn Randulph sich vor den Krähen gefürchtet hatte, deren Schreie vor dem Fenstergitter die Nacht durchschlugen. Ist schon gut, kleiner Bruder, ist schon gut. Selbst der größte Mann hat manchmal Angst, wenn er kein Dummkopf ist …
Eine Ewigkeit hatte Randulph sich nicht mehr gestattet, Gregorys Stimme zu hören, weil er geglaubt hatte, er hielte die Erinnerung an das Verlorene nicht aus.
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