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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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Jetzt tat es ihm wohl, sie zu erkennen und sich zu besinnen: Dieser zärtliche, humorvolle, tollkühne, über jedes Ziel hinausschießende Bruder hat mich geliebt.
    Sachte und fließend ging die geliebte Stimme in die von Prior Francis über. Die Worte, die er wieder und wieder beruhigend in Randulphs Ohr murmelte, gehörten nicht zum herzzerreißenden Leidenspsalm Jesu, sondern zu den tröstlichen, zuversichtlichen Versen, die diesem folgten: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zu frischem Wasser. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …«
    Randulph weinte, bis der Strom von allein verebbte. Bruder Francis ließ die Verse des Psalms in ein Vaterunser münden, in das Randulph einzustimmen versuchte. Als ihm die Stimme versagte, begnügte er sich damit, seinem Prior zuzuhören und zum Schluss mit ihm das Amen zu flüstern . So sei es.
    Francis half ihm auf die Füße und führte ihn aus dem Sanktuarium, zum Chorgestühl an der Seite. In den Armen des anderen, der selbst kein Gramm Fett auf den Knochen hatte, spürte Randulph den eigenen zum Skelett abgemagerten Körper. Statt ihn aufzufordern, sich zu setzen, drängte Francis ihn neben sich in einen Stuhl. Dort saßen sie lange schweigend und starrten in die flackernden Lichter der Kerzen.
    »Natürlich werdet Ihr den Vorfall dem Mutterkloster melden«, sagte Randulph endlich. »Ich verdenke es Euch nicht. Ein Abt, der die Kontrolle über sich selbst so gänzlich verliert, ist untragbar. Man wird Euch mein Amt zusprechen, und nichts anderes habt Ihr verdient.«
    »Ich wüsste nicht, warum solche Schritte nötig wären«, erwiderte Francis beschwichtigend. »Zwar sehe ich mit Besorgnis, wie Ihr Euch selbst verausgabt, doch an Eurer Art, dieses Kloster zu führen, habe ich nicht die mindeste Beanstandung. Im Gegenteil. Ich habe Euch immer bewundert.«
    Randulphs Blick fuhr zur Seite. »Wie meint Ihr das?«
    »Wie soll ich es meinen, mein Vater? Ich denke, die Abtei von Quarr könnte sich keine bessere Führung wünschen, als Ihr sie ihr zuteilwerden lasst. Ihr gebt Euch ganz. Haltet nichts zurück.«
    »Aber ich führe Menschen ins Unglück!«, brach es aus Randulph heraus. »Bruder Hamo ist um meinetwillen über seine Grenzen gegangen und daran jämmerlich verreckt.«
    »Bruder Hamo wünschte sich verzweifelt, mehr zu sein, als er war. Ihr habt ihm viel Zeit gewidmet. Dass Ihr ihn vor sich nicht bewahren konntet, ist nicht Eure Schuld, und das Wissen um Euren Beistand mag ihm den Tod erleichtert haben. Mehr vermögen wir oft nicht zu tun. Wir sind nicht allmächtig, mein Vater.«
    Ihre Blicke trafen sich.
    »Woher wusstet Ihr, dass es mir – nicht gut ging?«, fragte Randulph.
    Prior Francis zuckte mit den Schultern. »Ihr und ich … Wir sind so lange hier, weshalb sollten wir nicht wahrnehmen, wenn dem anderen ein wenig Ermutigung nottut?«
    »Ihr seid länger hier als ich.«
    »Ein paar Jahre länger, ja.«
    »Euer ganzes Leben.« Prüfend sah Randulph zur Seite.
    »Das macht es mir zuweilen schwer«, sagte Bruder Francis ohne die leiseste Erregung in der Stimme. »Wer nie in der Welt gelebt hat, hat auch keine Welt, von der er sich zurückziehen kann. Er hat keinen Tausch zu machen, keine Wahl zu treffen. Ihr habt Euch bewusst für dieses Leben entschieden und ein anderes dafür verworfen. Das erscheint mir immer als ein Mönchstum der höheren Weihe, wenn Ihr versteht, was ich meine – einer Weihe, die unsereiner erst noch in Kämpfen erringen muss. Wie ein Knabe, der in Schmerzen erwachsen wird.«
    »Ihr wollt mir nicht erzählen, Ihr fändet mich erwachsener als Euch! Gerade jetzt, nachdem Ihr mich flennend auf dem Boden gefunden habt wie ein kleines Kind?«
    »Wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder …« Francis lächelte. »Gehört nicht Größe dazu, mit solcher Kraft um Menschen zu weinen? Ihr habt gelitten, mein Vater, und Ihr leidet noch immer. Aber Ihr ringt auch noch immer darum, das Richtige zu tun. Nicht als Mauer, die unberührt in der Landschaft steht, sondern als Mensch mit verletzlicher Haut. Was sonst könnte Menschsein ausmachen? Selbst unser Erlöser, der in Gethsemane den Tod fürchten lernte, ließ sich, als er zur Erde zurückkam, nicht an einem Heiligenschein erkennen, sondern an den Wunden, die seinen Tod verursachten.«
    Randulph musste den Atem anhalten, so überwältigend waren die Worte seines Priors. Unwillkürlich tastete seine Hand nach seiner Flanke.

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