Kains Erben
Belang«, begann Vyves rau. »Dann bleibt es besser ungesagt, weil es nichts als neues Leid schafft. Wenn er aber wiederkommt und wenn du mit ihm gehen willst, frag ihn.«
Amicia blickte auf und bemerkte die Erschöpfung in Vyves’ Gesicht, den Schmerz in seinen Augen. »Ich wünschte, ich würde nicht so viel von dir verlangen«, sagte sie, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und streichelte seine Hand. »Ich will nicht, dass er wiederkommt, und ich werde nicht mit ihm gehen. Vergessen wir, dass es ihn gab, Vyves?«
Er schenkte ihr noch ein Lächeln. »Wenn du es könntest, könnte ich es auch, mein Lieb.«
Das Vergessen, das keines war, währte keine drei Tage.
Hinter dem Haus türmte sich so viel Schnee, dass der Weg für die Karren der Lieferanten nicht länger passierbar war, und nachdem Vyves das Geschäft geschlossen hatte, ging er mit einer Schaufel nach draußen, um zu räumen.
»Nimm mich mit!«, rief Amicia und lief ihm hinterdrein. Sie hatte das Gefühl, im Haus zu ersticken. Zudem fand sie keinen Herzschlag lang Ruhe, wenn sie ihn nicht bei sich hatte.
»Es wäre mir lieber, du würdest dich nicht draußen zeigen«, versuchte er halbherzig, sie zur Vernunft zu bringen, aber sie hängte sich an seinen Arm und zog ihn mit.
»Ach bitte, Vyves – es ist doch dunkel, niemand ist unterwegs, und ich brauche unbedingt ein bisschen Luft.«
Es war schön draußen, still und menschenleer, am schwarzen Himmel standen die Sichel des Mondes und eine Sternenfülle, deren Funkeln der Schnee fing und zurückwarf. Die Arbeit mit der Schaufel vertrieb im Nu die Kälte, ihr Atem ging heftig und stieß kleine Wolken in die Nacht.
Vyves und Amicia keuchten, und ab und an lachten sie. Dann aber vernahmen sie den Hufschlag, und ihr Lachen verstummte.
Der Mann sprang vom Pferd. Der Hund ließ ein leises Knurren hören, ehe der Reiter ihm zur Beruhigung die Hand auf den Kopf legte. Kaum hatte er die Zügel des Pferdes um einen der Pflöcke geschlungen, schwang er sich über den Zaun und zog das Schwert. »Geht zurück in Euer Haus, und bleibt dort«, sagte er zu Vyves. »Andernfalls habe ich nicht die geringste Hemmung, Euch den Hals durchzuschneiden.« Seine Stimme war kälter als der Schnee und harscher als die Nacht, und doch hörte Amicia darin das Lied, das derselbe Mann in den Himmel gesungen hatte, klar und erfüllt von Liebe zum Leben. Verlor sie den Verstand? Entsprang die ganze Szene einem irren Traum?
Vyves rührte sich nicht. »Wer geht und wer bleibt, entscheidet Amicia«, sagte er.
Sie wollte zu ihm laufen, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. »Steck das Schwert weg!«, schrie sie den Mann an. »Komm nicht näher, geh weg, lass uns allein!«
Ihre Stimme kippte. Der Mann drehte sich um und sah sie an. Sie starrte ihm in die Augen, und ihr Herz schlug ihr vor Angst bis in den Hals. Er machte noch einen Schritt auf sie zu.
Amicia schrie auf. Sie würde nichts tun können und Vyves nicht helfen – der Schwindel war wieder da, sie sah nichts mehr als Drachen und Funken und spürte Sackleinen auf dem Gesicht. Dann hörte sie statt des markerschütternden Schreis das klirrende Geräusch, mit dem das Schwert in die Scheide fuhr.
»Das geht nicht«, sagte der Mann. »Dass du nicht mehr bei mir sein willst, ist verständlich, und bei jedem könnte ich dich lassen, aber nicht bei Juden.«
»Warum nicht?«, schrie Amicia, die ihre letzten Kräfte zusammennahm. »Glaubst du, du bist ein besserer Mensch, weil du getauft bist? Ich habe in meinem ganzen Leben keine besseren Menschen als Vyves und seine Familie gekannt!«
»Zum Teufel, Amicia!«, fluchte er und spuckte aus. »Weißt du, was dir droht, wenn dich jemand hier erwischt? Du wirst exkommuniziert, deine Taufe wird für nichtig erklärt …«
»Meine Taufe?«, schleuderte sie ihm entgegen. »Ich weiß ja nicht einmal, ob ich überhaupt getauft bin, und wenn, dann ist es mir nichts wert!«
»Und was sind dir deine jüdischen Freunde wert? Sie wandern im besten Fall in den Tower dafür, dass sie eine Christin verstecken, im schlimmsten geradewegs an den Galgen.« Er kam noch ein paar Schritte auf sie zu. Seine Zähne blitzten, seine Hand fuhr zur Seite und zeigte auf Vyves. »Und wenn jemand verbreitet, dass du mit ihm verkehrst? Glaubst du, du wirst dann angeklagt, weil der Mann, den du liebst, zu schwarzes Haar hat, und ihr beide kommt glimpflich davon? Dann irrst du dich sehr. Die Anklage lautet auf Sodomie, verstehst du? Eine, die bei einem
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