Kains Erben
Art und ohne jeden Vorwurf. Timothy schwatzte auf sie ein, er habe sich aufs Fürchterlichste um das Amselchen gesorgt, Hugh gab ihr schweigend den aus ihrem Buch gerissenen Fetzen mit der Nachricht zurück, und Magdalene, die noch dünner und bleicher geworden war, schloss die Arme um sie und gelobte, sie werde sie künftig nicht mehr aus den Augen lassen. »Ich habe meinen Herrn Matthew nie so außer sich gesehen«, beteuerte sie. »Und ich werde mir nie verzeihen, dass ich auf seine Amsel nicht besser aufgepasst habe.«
»Wie hättest du denn auf mich aufpassen sollen?«, fragte Amicia traurig. »Vögel fliegen ja, wohin es sie treibt. Sie gehören niemandem. Auch nicht deinem Herrn Matthew.«
»Aber der Herr Matthew liebt dich«, antwortete Magdalene schlicht. »Und er ist ohne dich allein.«
Amicia war ohne ihn ebenfalls allein. Wie hatte sie sich vormachen können, der Rausch und die Sehnsucht, die sie an ihn banden, ließen sich vergessen? Er war kalt und kurz angebunden, er ging ihr aus dem Weg, als litte sie an Aussatz, und das, was keiner von ihnen aussprach, türmte sich zwischen ihnen wie die Mauer um den Tower, die mit jedem Tag wuchs. Amicia wusste: Eine Vertrautheit, wie sie sie mit Vyves geteilt hatte, würde es zwischen ihnen nie geben. Dennoch hatte sie mit Matthew gehen müssen, weil in Magdalenes einfachem Satz die Wahrheit lag: Sie waren ohne einander allein.
Gen Norden zu ziehen, solange es so heftig schneite, wagte Matthew nicht. Bei Tom und Dolasilla zu bleiben, bis das Wetter umschlug, wagte er jedoch noch weniger. »Ich bringe die ganze Familie in Gefahr«, knurrte er auf Amicias Frage. »Nach dir wurde bereits gefragt – soll ich die Hände falten und abwarten, bis wir einen dieser Leute auf dem Gewissen haben?«
Nein!, blaffte sie in Gedanken zurück. Aber du solltest endlich mit mir sprechen.
Dass er ihr etwas verschwieg, bezweifelte sie nicht, und Dolasilla bestätigte es mit einem hingeworfenen Satz beim Zwiebelschneiden: »Er grollt dir, weil du so lange fortgeblieben bist, und du grollst ihm, weil er als Erster fortblieb – aber keiner von euch beiden gehört zu den Leuten, die verschwinden, ohne einen ausgezeichneten Grund dafür zu haben.« Ihren Grund kannte Matthew: Sie hatte ihre Vergangenheit gefunden. Was er gefunden hatte, wurde hingegen mit keinem Wort erwähnt.
Amicia ließ ihn davonkommen. Sie spürte, dass das Wissen, das er ihr vorenthielt, sie betraf und ihr somit zustand, doch sie würde nicht darum betteln.
Nach Einbruch der Dämmerung brachen sie auf. Matthew führte Amicia und Magdalene, Timothy und Hugh den Fluss entlang bis zu einem verfallenen Lagerhaus. Hier sollten sie sich versteckt halten, bis das Wetter die Weiterreise erlaubte. Es war schneidend kalt in dem weitläufigen, aus Holz errichteten Gebäude, und sie hatten alle Hände voll damit zu tun, ein Feuer in Gang zu bekommen, die Ritzen gegen den Wind abzudichten und sich Lager zu bereiten, auf denen sie die Kälte der Nacht überleben würden. Ein paar Tage lang kämpften sie auf diese Weise darum, sich den Wartestand erträglich zu machen, während Matthew sich kaum blicken ließ. Als Amicia ihn einmal fragte, was er trieb, fuhr er sie an, er habe schließlich Geld für die Reise wie für ihrer aller Unterhalt zu beschaffen. Tatsächlich brachte er, wann immer er kam, warme Kleidung, Essen und Feuerholz mit.
Eine Woche verging. Amicia strich so ruhelos durch das Haus wie über ein Feld voll Scherben, auf dem man nirgendwo verharren konnte. Was hatte sie erwartet? Dass er sie belohnte, weil sie mit ihm gegangen war, dass er sich ihr öffnete und ihr half, in einem Irrgarten voller Rätsel ihren Weg zu suchen? Sie sehnte sich nach Vyves. Obwohl sie wusste, dass sie den Brief nicht würde bestellen können, bettelte sie Matthew an, ihr einen Bogen des billigsten Palimpsests zu besorgen, damit sie an ihn schreiben konnte. Matthew brachte ihr zwei Bögen teuersten Vellums, und Amicia beschrieb sie in ihrer engsten Schrift, immer nur eine Handvoll Zeilen pro Tag, damit der kostbare Schreibgrund, die Verbindung zu Vyves, ihr lange erhalten blieb.
»Irgendwann«, so versprach sie ihm auf dem Papier, »werde ich einen Weg finden, dir diesen Brief zu senden. Dich wissen zu lassen, wie sehr du mir fehlst. Ich hatte keine Wahl, Vyves. Ich musste mit Matthew gehen, und du hast es früher gewusst als ich. Dennoch wünsche ich mir jeden Tag, dass ich mich irgendwann für dich entscheiden und zu dir
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