Kains Erben
sich im Dunkeln in den Wald zu wagen, der so dicht war, dass ihre Füße bei jedem Schritt über Wurzeln stolperten. Die hohen Kronen ließen kein Licht ein, und die Kälte der Nacht war harsch. Amicia fröstelte in ihrem Mantel, doch Magdalene trug nicht einmal ein Tuch und schien dennoch nicht zu frieren. Sie schien gar nichts zu spüren, nicht die Zweige, die ihr ins Gesicht peitschten, weder den Wind noch die Unebenheiten des Bodens. Mit starr geradeaus gerichtetem Blick stürmte sie dem Hund hinterdrein. Sie war besessen von dem Mann, nach dem sie suchten.
Amicia wusste, dass Magdalene ein gefallenes Mädchen gewesen war, das sich in einem Alehaus im Norden verdingte, bis der schöne Ritter gekommen war und sie aus dem Elend erlöst hatte. Seit Magdalene bei ihr wohnte, hatte sie die Geschichte gewiss fünfmal zu hören bekommen. Sie mochte das einfältige Wesen gern, doch das Gerede von Herrn Matthew machte sie verrückt.
Der Kerl war Amicia zuwider. Sie hatte von den frommen Mönchen, die sie aufgezogen hatten, gelernt, dass heftige Gefühle zu meiden waren, doch dass der fremde Ritter einen Sturm von Abneigung in ihr weckte, ließ sich nicht ändern. Sie fand ihn auch nicht schön, auch wenn Magdalene das unentwegt behauptete. Er hatte etwas an sich, das sie zwang, ihm ins Gesicht zu sehen, und jedes Mal überlief sie ein Schauder. Seine Augen waren schwarz wie Kohlen, was nicht zum Goldbraun des Haars passte. Seine Züge mochten eben sein, doch sie waren so scharf, als hätte ein Augenblick des Entsetzens sie geprägt. Was für ein alberner, kranker Gedanke! Amicia schüttelte sich, um ihn loszuwerden. Die Nacht mit ihrem Rascheln, Knistern und Flüstern musste daran schuld sein.
Es gab greifbarere Gründe, Matthew de Camoys zu hassen. Er war hochmütig und schlecht erzogen. Und er kam als Geldeintreiber König Edwards, der streng genommen kein Recht hatte, von den Bewohnern der Isle of Wight Abgaben zu fordern. Abt Randulph hatte Amicia zwar ermahnt, sich mit den Intrigen der Welt nicht zu befassen, nicht nur, weil es sich für Frauen nicht schickte, sondern weil es der Hinwendung zu Gott im Weg stand. Dennoch konnte niemand auf der Insel leben, ohne um den uralten Streit zwischen den Herren der Burg und dem König von England zu wissen.
Zu anderen Zeiten hätte sich vermutlich kein König die Mühe gemacht, um die Rechte an dem Stück Land vor seiner Küste zu streiten. Der jetzige Herrscher, Edward, der erste seines Namens, hatte jedoch ein Reich übernommen, das von einem knappen Jahrhundert Rebellion und Bürgerkrieg zermürbt war, und das Erbe seines schwachen Vaters, des dritten Henrys, war in den Gemütern der Menschen noch spürbar – sie waren unzufrieden, rastlos, leicht in Zorn zu bringen. Eine endlose Folge schlechter Sommer und karger Ernten tat ein Übriges. Englands Volk hungerte, und der Mangel befeuerte seinen Zorn. Edward aber war kein König, der wie sein sanfter Vater zu beschwichtigen suchte. Er war ein König, der Exempel statuierte.
Der Kreuzzug, dem er vorangezogen war, hatte sich als Fehlschlag erwiesen, und ein zweiter, den er dem Papst in die Hand versprochen hatte, scheiterte an leeren Kassen. Also musste der kriegslustige König auf andere Art beweisen, dass er sich von niemandem gefallen ließ, was sein Vater rebellischen Baronen hatte durchgehen lassen. Das störrische Fürstentum Wales hatte er sich ohne Rücksicht auf Verluste einverleibt, und was mit dem gefangenen walisischen Herrscher Dafydd ap Gruffydd geschehen würde, wollte Amicia nicht allzu gern wissen.
Als Nächstes plante Edward womöglich einen Feldzug nach Schottland, und dass es ihm bei alledem nicht gelang, sich mit der Isle of Wight eine Insel einzuverleiben, die ein Vorgänger vor zweihundert Jahren leichtfertig verschenkt hatte, bohrte ihm als Stachel im Fleisch. Die Insel war reich und fruchtbar, Wein und Obst gediehen hier, und die Launen des Wetters, die England heimsuchten, verschonten sie. Vor allem aber lag die Insel vor der Küste wie ein Torhaus vor einer Burg. Und sie wurde nicht mehr von einem Grafen de Redvers beherrscht. Sondern von einer Gräfin.
Wo der Wald sich lichtete, schlug ihr schneidender Wind entgegen. Amicia zog den Mantel fester um sich. In welchem Dickicht hatten sich ihre Gedanken verloren? An Matthew de Camoys hatte sie gedacht, den sie seit bestimmt einer Stunde in der Dunkelheit suchten. Längst hätte sie auf Rückkehr drängen wollen, doch mit Entsetzen erkannte sie,
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