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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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dass sie den Weg nicht wusste. Und wenn sie den Ritter fanden? Wenn er tot war, wie Magdalene fürchtete – würde sie insgeheim Erleichterung verspüren? Nicht weil er ein Widerling war und den Leuten Gelder abpresste, sondern weil seine Gegenwart sie bedrohte, das kleine Leben, das alles war, was sie besaß. Von Magdalene hatte sie erfahren, dass Matthew nach Yorkshire gehen wollte, sobald er seine Beute in London abgeliefert hatte. Und auf welche Idee das Abt Randulph bringen würde, wusste sie nur zu gut.
    Er hatte mehr als einmal davon gesprochen, sie nach Fountains Abbey zu senden, wo man sich ihrer annehmen würde. Dass sie in Quarr nicht bleiben konnte, war ihr bewusst. Aber sie musste doch bleiben, einen anderen Ort gab es für sie doch nicht!
    Mit einem Mal schien sich die Einsamkeit der Nacht wie mit Klauen um sie zu schließen. Amicia wäre am liebsten zurück in ihr Haus geflohen und hätte sich an dessen Eckpfeiler geklammert, damit keiner kommen und sie verschleppen konnte.
    »Du hast Glück, dass du ein Heim hast«, hatte die zerzauste kleine Magdalene gesagt.
    Amicia hatte gelacht. »Ich habe nicht einmal einen Namen, geschweige denn Eltern.«
    »Ich auch nicht«, hatte Magdalene erwidert. »Aber du hast ein Haus.«
    Magdalene hatte recht. Was das Haus ihr bedeutete, hätte sie in Worten nicht zu sagen vermocht. Amicias Erinnerung setzte in einem fensterlosen Kellerraum unter den Gästequartieren des Klosters ein. Nie hatte sie gewagt, sich aus der schützenden Schwärze hinauszubegeben, in die Weite, in der überall Gefahr lauerte. Stille und Schwärze, das war alles, was sie ertragen hatte. Bis Randulph sie gezwungen hatte, die Mauern des Klosters zu verlassen. Sie hatte die Augen zugekniffen, doch unter den nackten Sohlen feuchte Erde und Gras gespürt. Als ein Amselhahn zu singen begann, legte sie den Kopf in den Nacken und zwitscherte ihm Antwort. Bis zu diesem Tag hatten die Brüder sie immer wieder nach ihrem Namen gefragt, aber sie hatte keine Antwort gewusst. Jetzt wusste sie eine: »Ich bin die Amsel.«
    Dass sie Amicia hieß, erzählte Randulph ihr erst Jahre später. Sie merkte es sich, doch es hatte für sie keine Bedeutung.
    Von Bedeutung waren das kleine nach Holz duftende Haus, das sie bezog, das Knacken der Balken in der Nacht und das Fiepen der Schwalben unter dem Dach. Das leuchtende Grün, das nach der Saat die Erde sprengte, das Honiggold der Bienen und die schweigende Dankbarkeit der Brüder, wenn sie ihnen am Tor Körbe voller Würste, Eier und Früchte übergab. Niemand konnte den unbekannten Schmerz heilen, der in Amicia wütete, niemand konnte ihr die Angst und die Albträume nehmen und niemand die Jahre ersetzen, die ihrer Erinnerung fehlten. Aber die Mönche von Quarr hatten dem verängstigten Tier, das sie war, eine Höhle geschenkt und ihm erlaubt, darin Schutz zu suchen.
    Wie sollte sie leben, wenn man ihr diese Höhle raubte? Wenn man sie mit einem Mann fortschickte, dessen bloßer Anblick ihr Grauen einflößte – auf eine Reise ins Nirgendwo? Amicia war kein einfältiges Kind wie Magdalene, sie hatte aus den Büchern der Zisterzienser Bildung erworben, und natürlich wusste sie, dass jenseits der Meerenge England lag. Sich wahrhaftig vorzustellen, dass es Land außerhalb ihrer Insel gab, war jedoch etwas anderes. Es war so wie mit Gott: Daran, dass es ihn gab, zweifelte kein Mensch, doch um sein Dasein zu erfassen, zumal in schwarzer Nacht, war ein menschlicher Geist zu eng.
    In der Mitte der Lichtung spiegelte sich das Sternenfunkeln in der dunklen Oberfläche eines Sees. Magdalenes Schrei übertönte das Wispern der Nacht und riss Amicia aus ihren Gedanken. Zugleich mit dem Hund begann das Mädchen zu rennen. Amicia hätte den leblosen Leib, der in der Uferböschung lag, nicht gesehen, aber Magdalene schien ihn zu wittern wie das Tier. Aufjaulend warfen sich beide über ihn, und das Mädchen schmiegte ihre Wange an seine.
    Amicia stockte der Atem. Rot glänzte das Gras um den Körper, rot glänzte die entblößte Brust, als hätte der Mann im Sterben all sein Blut verloren.
    Er musste so töricht gewesen sein, das Kettenhemd abzulegen, um im See zu baden. Mehrere Hiebe mit Stichwaffen hatten ihn – allem Anschein nach von hinten – durchbohrt. Amicia wünschte sich, Bedauern zu verspüren, Mitleid mit dem Menschen, der in der Blüte seiner Jahre aus dem Leben gerissen worden war, doch in ihr war nichts als die Angst, die der Geruch von Blut in ihr wachrief.

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