Kains Erben
Die Jahre in der Krankenpflege, die Aderlässe hatten sie gelehrt, die Angst zu beherrschen, doch gemildert hatten sie sie nicht. Während Magdalene dem Toten das Blut von der Stirn küsste, blieb Amicia stockstarr stehen. Neben dem schrillen Weinen des Mädchens glaubte sie das Klirren von Schwertern zu hören und einen Jungen im dunklen Surcot zu sehen, der den Klingen todesmutig entgegensprang.
Das Bild zersplitterte.
Magdalene richtete sich auf: »Er lebt! Mein Herr Matthew lebt!«
Lautes Rascheln ließ Amicia herumfahren. Kamen die Mörder zurück, ehe das Blut an ihren Klingen getrocknet war? Aber es war nur das Pferd, das mit zerfetztem Zügel aus dem Dickicht trat. Der angriffslustige Mastiff jagte Amicia immer noch Furcht ein, doch das Pferd hatte es ihr angetan. Sie kannte sich mit Pferden aus, denn auf Quarr züchteten sie robuste, zur Landarbeit wie zum Reiten geeignete Tiere, indem sie einheimische Ponys mit edleren Rassen kreuzten. Amicia liebte die Körperwärme und die Engelsgeduld der großen Geschöpfe und half bei keiner anderen Arbeit so gern aus. Jetzt streckte sie dem verstörten Pferd die Hände entgegen, und es kam zu ihr und ließ sich den verschwitzten Hals klopfen.
Erst als die kleine Hand sie berührte, bemerkte sie, dass Magdalene hinter ihr stand. Sie sah elend aus. Ihr Haar war wild zerrauft, Gesicht und Arme waren mit Blut beschmiert. »Es heißt Althaimenes«, sagte sie mit kindlich dünner Stimme. »Wir müssen ihm meinen Herrn Matthew aufladen und ihn so zurück zum Kloster schaffen. Dort wird man ihm helfen können, nicht wahr?« Sie flehte Amicia an, als sei diese ein Wesen mit göttlicher Macht.
»Er ist doch tot!«
Magdalene schüttelte heftig den Kopf. »Ich hab mein Gesicht an seinen Mund gelegt, und sein Atem hat mich am Ohr gekitzelt. Sieh es dir selbst an. Ich bleibe bei Althaimenes.«
Amicia schauderte. Der Gedanke, sich in die Nähe des Hundes zu begeben, der mit tropfenden Lefzen seinen Herrn bewachte, war grausig, doch der, den Todwunden zu berühren, war noch schlimmer. Ihre Hände krampften sich umeinander, während sie im Geiste die erlernte Gebetsformel sprach. Das Gleichmaß der lateinischen Worte gab ihr ein wenig Halt, als wäre sie nicht mit einem Sterbenden und einem halben Kind in dunkler Nacht allein, als stünde nahebei jemand mit einem Ohr für Hilferufe. Ihre Lippen zitterten, und ihre Zähne schlugen aufeinander, während sie sich zwang, zu dem Mann zu gehen und niederzuknien. Der Geruch des Blutes raubte ihr die Sinne, und als das Gras unter ihr quietschte, weil sie das Knie in eine Pfütze senkte, stürzte sie um ein Haar hintüber. Dann fasste sie sich. Das war doch albern! Wenn ihr Gefahr drohte, dann nicht von diesem in den letzten Zügen liegenden Kerl!
Auch das Gesicht, die Lippen waren blutverschmiert. Amicia schloss die Augen, beugte sich vor und brachte ihr Ohr vor den Mund des Mannes. Dabei stützte sie, ohne es zu wollen, eine Hand auf seiner bloßen Brust ab, und ehe sie auf einen Rest von Atem lauschen konnte, vernahm sie sein Herz.
Etwas Seltsames geschieht, wenn man den Beweis des Lebens unter den eigenen Händen spürt. Es entsteht der Wunsch, dieses eine Leben zu retten, als rette man damit die Welt. Amicia kannte die Erfahrung aus der Krankenpflege, doch dass sie sie auch hier überfiel, verblüffte sie. Sie zog die Hand weg und erhob sich. »Er ist ein schwerer Mann«, sagte sie zu Magdalene. »Wir zwei haben nicht die Kraft, ihn aufs Pferd zu heben.«
»Wir müssen sie haben!«
»Ja«, erwiderte Amicia bei sich, »ja, das müssen wir wohl.« Dann ging sie, um das Pferd so nah wie möglich an den Körper heranzuführen. Sie suchte Magdalenes Blick. Es war gut möglich, dass sie Matthew de Camoys töteten, wenn sie versuchten, ihn zu retten. Hatte die Kleine, die dem Kerl hörig war, den Schneid dazu?
Sie hatte. Ohne mit der Wimper zu zucken, bückte sich Magdalene und packte ihn bei den verletzten Schultern.
»Nicht da«, sagte Amicia und musste beinahe lächeln. »Nimm ihn um die Fußgelenke, das ist die leichtere Hälfte.«
Er war noch viel schwerer, als sie angenommen hatte. Ächzend hievten sie ihn vom Boden, griffen unter ihn, stemmten ihn mit allen Kräften in die Höhe, sodass Amicia fürchtete, es sprenge ihr die Adern am Hals. Wäre das Pferd nur um einen Zoll von der Stelle gewichen, hätten sie es nicht geschafft. Auch so blieb das Unterfangen eine wacklige Angelegenheit, und als sie den leblosen Körper mit
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