Kains Erben
dem letzten Rest ihrer Kraft über dem Sattel fallen ließen, entfuhr den zerschlagenen Lippen ein Stöhnen.
»Er lebt!«, rief Magdalene. Sie lief um das Pferd herum, trat vor dessen Flanke, wo der Kopf ihres Herrn herunterbaumelte, und überhäufte sein Gesicht mit Küssen. »Wir haben Euch nicht wehtun wollen, Mylord. Nie im Leben, nie im Leben.«
»Jetzt hör auf zu flennen!«, herrschte Amicia sie an. Sie war enttäuscht. Bis eben war die Kleine so tapfer gewesen.
Reumütig senkte Magdalene den Kopf, doch ihre Hand fuhr fort, den Mann zu streicheln. »Was soll ich tun?«
Amicia seufzte. »Wenn er auch nur die kleinste Hoffnung auf Leben haben soll, müssen wir machen, dass wir ihn aus diesem Wald bekommen. Halt ihn in Gottes Namen auf dem Sattel fest. Ich führe das Pferd.«
Wäre der Hund ihnen nicht vorangelaufen, hätten sie nie und nimmer zurückgefunden. Der Hund aber wählte Schlupflöcher, durch die das Pferd nicht passte. Sie mussten sich Pfade durchs Dickicht schlagen, und bei alledem baumelte der Körper des Ritters über dem Sattel und verlor bei jedem Schritt Blut. Bange Blicke nach hinten verrieten Amicia, dass er weit mehr abbekommen hatte als die zwei, drei Stiche, die genügt hätten, um ihn zu töten. Wer immer für den Überfall verantwortlich war, hatte nicht mit Berechnung, sondern mit Leidenschaft zugeschlagen. Er hatte ihm Schmerz zufügen wollen, wütenden, höllischen Schmerz.
Magdalene mochte recht haben: Vielleicht waren es Männer gewesen, die Matthew de Camoys um Geld gebracht hatte. Doch wenn dem so war, hatten sie sich das Geld nicht zurückgeholt, denn die Börse hing dem Ritter noch prall vom Gürtel. Auch hätte ein Räuber weder das Pferd entfliehen noch das wertvolle Kettenhemd im blutigen Gras liegen lassen. Wie zum Hohn hing auch die kastanienrote Laute unversehrt am Sattel, und von seinen Waffen fehlte lediglich das Schwert.
Amicia glaubte nicht an einen Räuber und auch nicht an den Racheakt eines um Geld betrogenen Insulaners. Überfälle auf Steuereintreiber gab es häufig, doch die Täter begnügten sich normalerweise damit, ihrem Opfer eine tüchtige Tracht Prügel zu verpassen und das Geld wieder einzusacken. Dass jemand einen Mann des Königs regelrecht zerfleischte, war ohne Vergleich und sprach von blindem, blankem Hass.
Vermutlich hat der Täter einen guten Grund dafür, durchfuhr es sie, doch im selben Atemzug riss sie das Pferd am Zügel, um es anzutreiben. Auch wenn die Brüder von Quarr sie anderes gelehrt hatten, zweifelte Amicia nicht daran, dass ein Mann einen grausamen Tod verdienen konnte. Dennoch wollte sie nicht, dass Matthew de Camoys starb.
Ein Stück Ewigkeit musste vergangen sein, ehe sie schwer atmend aus der Schwärze des Waldes tauchten. Rosa und grau dämmerte hinter der Hügelkette der Tag herauf, und die Gebäude des Klosters lagen weich in die Nebel des Morgens gehüllt. Luke, der älteste der Laienbrüder, machte sich gerade auf den Weg zu den Bienenkästen, unter dem Arm die Lade mit dem Zuckersirup, den er den Tieren im Tausch für ihr Gold geben würde, damit sie den Winter überstanden. Vorne am Koppelzaun stand Bruder Timothy mit einem Halfter, um einen Jährling zu fangen und ihn zum Pferdemarkt nach Newport zu treiben.
Welcher Frieden dem Leben der Abtei innewohnte! Jetzt, wo sie den Schutz der Gemeinschaft verlassen hatte, bemerkte Amicia, wie sehr sie sich in ihn zurücksehnte, wie unfähig sie sich fühlte, ein Leben außerhalb dieser Stille zu bestehen.
Bruder Timothy pfiff bei der Arbeit. Amicia hob den Arm und rief zu ihm hinüber: »Helft uns, Bruder. Wir haben einen Sterbenden bei uns!«
4
E
s war ein schöner Tag. Vor langer Zeit hatte Vyves sich angewöhnt, so über alle Tage zu denken, die nicht gänzlich schlecht waren, und irgendwann war es ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Es war zu kalt für die Jahreszeit, aber es hatte keinen Regen, sondern sogar ein wenig Sonne gegeben, die den Dächern der Stadt Glanz verlieh. Er war nicht allein, hatte Gideon bei sich, seinen Freund, und er besaß eine Familie, die daheim auf die Einkäufe wartete. Auf dem Markt war alles friedlich verlaufen, geradezu ereignislos, wenn man von ein paar Schimpfworten und einem Backenstreich absah. Ein Trupp Männer des Constables von der Burg war am Stand des Bürenwebers vorbeimarschiert und hatte Gideon und Vyves aus dem Weg getrieben. Der Geflügelhändler hatte versucht, Gideon zu ohrfeigen, und Vyves hatte sich
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