Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
Vom Netzwerk:
dazwischengedrängt, weil ihm der Schlag nur die Wange, nicht aber den Stolz verletzte. Das und ein paar Beleidigungen, eine Handvoll Kot, der sie ausweichen konnten, war alles gewesen. Nicht viel für einen Besuch auf dem Markt. Nichts, womit sich nicht leben ließ.
    Sie hatten alles bekommen, was sie brauchten, zu zwar überteuerten, doch erschwinglichen Preisen. Seine Mutter, Esther, Deborah und die kleine Noya würden beim Öffnen der Kiepen in Jubel ausbrechen.
    Der Tag war schön. Morgen war Rosch ha-Schanah , und heute noch würden sie alle gemeinsam ans Grab von Gideons Eltern gehen, um das Gedenken an die Toten aus dem alten ins neue Jahr mit hinüberzunehmen. Auch das Gedenken an Tote, denen in der Welt kein Grab beschieden war. Danach würden er und Gideon das reinigende Bad in der Mikwe nehmen, und morgen früh würde das Schofarhorn mit seinem Signal den Beginn des Neujahrsfestes ankündigen.
    Er freute sich auf den Duft des köstlichen Zimmes mit seinem Zimt und Muskat, der in Schwaden durch das Haus wallen würde, und er freute sich auf Gideons Segen über dem Kidduschbecher, dem die Segenssprüche zu den Speisen folgen würden.
    Über den Köpfen der gefüllten Fische: Möge es dein Wille sein, dass wir zum Kopf, nicht zum Schwanz werden.
    Über den Honigkuchen und dem Süßwein: Möge es dein Wille sein, dass uns ein süßes Jahr bevorsteht.
    Und über den mühsam ergatterten Granatäpfeln: Möge es dein Wille sein, dass unsere Rechte sich vermehren wie die Kerne dieser Früchte.
    Gerade der letzte Wunsch durfte nicht ausbleiben, erst recht nicht mehr, wo weder er noch Gideon an dessen Erfüllung glaubten. Die Rechte ihres Volkes vermehrten sich nicht, sondern wurden mit jedem Jahr spärlicher; den Frauen jedoch verlieh der althergebrachte Wunsch einen Funken Hoffnung. Sie würden sich über die Granatäpfel freuen wie über die Schmuckstücke, die sie verdient hätten.
    Von der Seite sandte ihm Gideon einen Blick. »Du musst ja Grund haben, so selig zu grinsen, Vyves ben Elijah. Macht es dir etwa Spaß, die Arbeit von Weibern zu verrichten?«
    »Was willst du tun?«, fragte Vyves zurück. »Die Frauen auf den Markt schicken?«
    Gideon seufzte und schüttelte den Kopf. Dann zerrte er sich den Riemen seiner Kiepe vor der Brust zurecht, sodass er den gelben Fetzen Stoff verdeckte, der über seinem Herzen aufgenäht war.
    Jedes Mal, wenn er es tat, versetzte es Vyves einen Stich. Behutsam griff er nach der Hand des Freundes und zog den Riemen wieder zur Seite. »Das ist würdelos, Gideon.«
    »Würdelos ist es, dieses Schandmal zu tragen!« Wie ein bockendes Pferd blieb Gideon stehen und befreite seine Hand. »Ein Segen, dass meine Eltern sterben durften, ohne derart gedemütigt zu werden! Ich wünschte, du würdest es auch verdecken, zumindest in meiner Gegenwart. Ich schäme mich.«    
    »Und wofür?«, fragte Vyves. »Für das Volk, dem du angehörst?«
    »Du verstehst gar nichts!«, fauchte Gideon, ehe ihm die Stimme versagte.
    Dass er nicht alles nachvollziehen konnte, was in Gideon vorging, lag nahe, schließlich hatte Vyves ein anderes Leben geführt. Aber den Schmerz, der sich ins Gesicht des Freundes grub, verstand er. Gideons Familie hatte immer in den schützenden Mauern der Stadt Windsor gelebt. Sie war mit William dem Eroberer gekommen wie die Normannen, die die Burg der Stadt errichtet hatten. In einer sauberen Gasse im Schatten der Burg hatten Gideons Eltern ihr Gasthaus geführt, und da sein Vater obendrein Geldgeschäfte betrieb, waren Gideon und seine Schwester Deborah in Wohlstand aufgewachsen, hoch angesehen bei ihren jüdischen Nachbarn und respektiert von den Christen. Von der Vorschrift, ein gelbes Stück Stoff zur Kennung auf der Brust zu tragen, hatten vermögende Juden sich früher freigekauft. Dass er einst selbst auf solche Weise stigmatisiert durch die Straßen seiner Heimat laufen und sich bespucken lassen musste, hatte Gideon sich gewiss nie vorstellen können.
    König Edward hatte jedoch verfügt, dass ohne Ausnahme jeder Jude, der das siebente Jahr überschritten hatte, das gelbe Stück Stoff an seiner äußeren Kleidung tragen musste. Vielleicht hatte der König nie die Gefangenschaft verwunden, die er als junger Mann im Kampf gegen die rebellischen Barone hatte erdulden müssen. In den bald elf Jahren seiner bisherigen Regierung hatte er jedenfalls deutlich gemacht, dass er unangefochten in seinem Reich zu herrschen gedachte und dass er allein entschied, wer darin

Weitere Kostenlose Bücher