Kains Erben
lichtete sich. Zu den zwei Männern, die sie hinaus aufs Feld gezerrt hatten, hatten sich zwei weitere gesellt. Zu viert hielten sie Amicia fest, drückten sie nieder, schlangen ihr Stricke um Arme und Beine. Sie hätten sich die Mühe sparen können, denn Amicia lag still wie gelähmt, beobachtete vom Boden aus die Männer zu Pferd und zu Fuß. Sie hatten ihr Zelt umzingelt und zerrten den alten Hugh heraus. Einer von ihnen, ein großer, gebeugter Mann auf einem Schimmel, brüllte etwas und hob sein Schwert über den Kopf. Als es niedersauste, schloss Amicia die Augen. Dass die Kraft des Hiebs genügte, um einem Greis den Schädel zu spalten, stand außer Frage.
Magdalene, betete sie stumm, Magdalene! Es war, als hätte ihre Sprache keine anderen Worte. Tatsächlich schien das Mädchen entkommen zu sein, während Timothy von zwei Bewaffneten über den Boden geschleift wurde, so verzweifelt er sich wehrte und schrie. Keinen Herzschlag später brach Stephen aus dem Gehölz, das kurze Schwert in der Rechten, wie Matthew es ihn gelehrt hatte. Mit einem gewaltigen Schrei stürzte er sich auf die Männer, die Timothy hielten, und hieb nach allen Seiten aus.
Sie alle wehren sich wie die Löwen, durchfuhr es Amicia. Nur ich liege still und lasse mich fesseln wie ein Kalb. Und doch war sie nicht fähig, zu handeln oder auch nur zu denken, in ihrem Kopf war nichts als Matthews Gesicht. Wieder, wie vor zwölf Jahren, wurden vor ihren Augen ihre Freunde gemordet, und unter den Mördern war Matthew, der Mann, den sie geliebt hatte. Schleier senkten sich vor ihr Gesicht, und dahinter sah sie, wie Matthew vor den betenden Abel trat. Mit beiden Händen packte er den Schwertgriff und schwang die Waffe über seinen Kopf, doch ein anderer gebot ihm lässig Einhalt. Klirrend schob Matthew das Schwert in die Scheide und stieß mit seinen behandschuhten Händen Abel in den Rücken. Das Bild wurde schwarz, und durch die Finsternis hallte eine Stimme, die zählte: Sieben. Acht. Neun. Zehn.
Als ihr Blick sich klärte, sah sie, dass Stephen noch immer mit unglaublichem Heldenmut kämpfte. Den Mann, der Timothy um die Schultern gefasst hielt, traf er am Kopf, dann ging er in die Hocke und stach ihm das Schwert in den Leib. Mit einem gurgelnden Laut ging der Mann zu Boden und gab Timothy frei. Stephen, der jüngste Sohn der Alpenländerin Dolasilla, der so gern ein Ritter werden wollte, kämpfte unermüdlich. Mit einem voll gerüsteten, ausgebildeten Kämpen hatte er es bereits aufgenommen, und jetzt stellte er sich tollkühn dem zweiten, der Timothys Bein weiter umklammert hielt.
Ob er auch diesen noch niedergestreckt hätte, würde Amicia niemals erfahren. Der Reiter, der Hugh ermordet hatte, riss seinen Schimmel in dem Moment herum, in dem Stephen auf seinen zweiten Gegner eindrang, und sprengte mit blankem Schwert auf die Gruppe zu. Am Heft seiner Waffe, die dreimal so groß zu sein schien wie Stephens Einhänder, glänzte der Drache. Es war wie damals. Amicia wollte schreien, aufspringen, ihre Freunde bewahren, aber sie hörte keinen Laut von ihrer Stimme und vermochte kein Glied zu rühren.
»Lauf!«, schrie Stephen, der seinen Gegner am Arm getroffen hatte, sodass diesem Timothys Bein entglitt. »Lauf!«
Während Timothy sich auf die Knie und schließlich auf die Füße rappelte, hatte der Schimmelreiter sein Ziel erreicht. Sein Schwert schwang nieder, ehe Amicia die Augen schließen konnte. Doch statt Stephen traf die Waffe Timothy, der sich dazwischengeworfen hatte und augenblicklich zu Boden ging. Der kleine Schwätzer, den niemand ernst genommen hatte, war für seinen Retter zum Helden geworden.
Vor Schmerz und Fassungslosigkeit zuckte Amicias Kopf willenlos hin und her, während der Rest von ihr wie ein toter Gegenstand liegen blieb. Überall, so schien es ihr, wurde gekämpft, überall schossen Reiter und Fußkämpfer aus dem Boden, überall blitzten Schwerter, manche mit Drachen und Funken, manche ohne. Überall floss Blut. Die Konturen, die sie ausmachte, wurden schwächer und verwischten. Was ging um sie vor? Warum kämpften die Drachenritter gegen andere, die mit ihnen nichts zu tun hatten? Aus dem Nebel in ihrem Kopf traten die Fragen klar hervor, aber keine von ihnen berührte sie. Was hätte sie noch scheren sollen, jetzt, wo sie alles wusste? Sie wünschte sich nur eines: dass die Männer, die ihre Fesseln hielten, sie töteten, wie Hugh und Timothy getötet worden waren. Dass sie ein Ende machten mit den Bildern
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