Kains Erben
auf einmal sicher zu wissen, was unter dem Stoff auf sie wartete. Sie hatte in vier Jahren nicht geweint, doch jetzt, als der Gegenstand vor ihr lag, wünschte sie inständig, sie hätte weinen können. Dass sie keine Tränen mehr hatte, tat ihr unendlich leid. Sie nahm den kalten kleinen Stein in die Hände und drückte ihn, als ließe er sich dadurch wärmen.
Das Papier erkannte sie als einen Streifen aus Samuel Crespins Kontobüchern, die Schrift glich der Unterschrift auf ihrem Heiratsvertrag, und die Worte waren so sehr Vyves’, als stünde er hier im Raum und streichle ihr beim Sprechen die Hand:
Nur das wollte ich dich wissen lassen, meine Amsel, dass es ein Leben gibt, das über das Schlimmste hinausgeht, und dass es Menschen gibt, die dich lieben, auch wenn ein Einziger nicht dazu fähig war. Das nimmt nicht dem ganzen Leben und der Liebe den Wert. Ich bin noch immer in London, ich ändere nur die Adresse, die ich dir hiermit übersende. Einmal habe ich dir versprochen, mit dir zurück zur Insel zu gehen, wann immer du es wünschst, und du sollst wissen, dass mein Versprechen gilt. Wenn du glaubst, es könnte dir helfen, sende mir Nachricht, und ich komme zu dir. Als dein Freund, meine Amsel. Nicht als jemand, der dir noch mehr Last auflädt.
Ehe sie es sich versah, hielt sie den kleinen Brief so zerdrückt in den Händen wie den Stein. Geliebter Vyves. Warum habe ich nicht für dich sein können, was du verdient hast? Warum konnten du und ich nicht den winzigen Fetzen Glück festhalten, der von unserer Kindheit in Carisbrooke noch übrig war?
»Amicia!«
Sie zuckte zusammen.
»Ich habe dich um etwas gebeten«, erinnerte die Stimme der Priorin sie streng. »Sprich mit mir über die Liebe. Nicht als eine Novizin mit ihrer Priorin, denn das sind wir füreinander nie gewesen, sondern als Amicia und Margaret. Sprich so, wie du zu einer Verwandten sprechen würdest.«
»Ich weiß nicht, wie man zu Verwandten spricht«, entfuhr es Amicia. »Ich habe nur meinen Bruder gehabt, sonst niemanden.«
»Soso«, brummte Mutter Margaret. »Etwas in der Art hat meine Schwester auch einmal gesagt: Sie habe nur einen Bruder und sonst niemanden, dabei hatte sie noch mich, aber das vergaß sie immer. Warum stellst du dir also nicht vor, du hättest auch noch eine Schwester, die zwar nicht so bedeutend wie dein Bruder, aber immerhin vorhanden ist. Sprich mit mir über die Liebe, Amicia, als wäre ich diese Schwester. Heraus mit der Sprache: Was hast du deiner Schwester über den jungen Mann zu erzählen, der dir den illustren Brief geschrieben hat?«
Wie mochte es sein, eine Schwester zu haben? Beim ersten zaghaften Versuch, es sich vorzustellen, fiel Amicia Magdalene ein, und ihre Kehle schnürte sich zu wie jedes Mal, wenn sie Gedanken an die Freundin nicht rechtzeitig unterdrücken konnte.
»Nun, wenn es dir so schwerfällt, mache eben ich den Anfang«, sagte Mutter Margaret trocken. »Meine Geschichte über die Liebe, von Schwester zu Schwester. Die Wände dieses Hauses haben keine Ohren, und Gott, der uns hört, weiß das alles ohnehin. Ich war ein ganz unbedeutendes Mädchen, obwohl ich an einem bedeutenden Hof zur Welt kam. Eine Drittgeborene. Einen Sohn und Erben besaßen meine Eltern, eine begehrenswerte Tochter obendrein, und ich, ihr letztes Kind, war schmächtig und kränklich, auch wenn sich das heute kein Mensch mehr vorstellen kann.«
Als sie sich auf den Bauch klopfte, fiel Amicia auf, dass die Priorin bei Weitem nicht mehr so wohlgenährt wirkte, wie sie sie kannte. Margaret aber sprach schon weiter: »Weil ich ein so kümmerliches, unscheinbares Wesen war, konnten mein Bruder und meine Schwester nie etwas mit mir anfangen. Ohnehin waren die beiden füreinander gemacht: zwei Seiten derselben Medaille, sie glühend, unzähmbar und voll Feuer und er klar wie Wasser, belesen und klug. Zwei jener schönen, herausragenden Menschen, wie sie selten geboren werden. Sie waren einander genug, und wenn ich manchmal eifersüchtig war, habe ich sie dennoch geliebt. So wie jeder sie liebte.«
»Sie …«, begann Amicia unsicher, »sie leben nicht mehr?«
»Mein Bruder ist tot«, erwiderte Margaret ruhig. »Vorerst aber sind wir alle drei noch Kinder, geboren an einem der großen Grafenhöfe des Landes, und wie alle Kinder unserer Kreise werden wir an den Höfen der Gleichgestellten herumgereicht. Wir kannten vermutlich jedes adlige Kind in England – auch die drei Sprösslinge des Barons von Aldfield, die im
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