Kains Erben
Bein all die Meilen mit ihr geritten war, sie angefleht. »Du bist die Letzte von euch, die ich lebend ans Ziel bringen kann. Wie soll ich denn meiner Mutter je wieder unter die Augen treten, wenn du mir auch noch stirbst?«
Allein das hatte Amicia angetrieben, den Weg nach Fountains bis zu Ende zu gehen, und Mutter Margaret, die sie dort abgeholt hatte, hatte genauso gesprochen. »Dass du es dir selbst antun willst, musst du mit deinem Schöpfer ausmachen«, hatte sie gesagt, als Amicia sich weigerte zu essen. »Aber hast du das Recht, es mir anzutun? Hast du dich nicht gefragt, warum ich mit meiner Plane kam, um dich zu holen, kaum dass du eine halbe Stunde mit deinem Begleiter und diesem Riesen von einem Hund in Fountains gewartet hast?«
Amicia hatte sich das nicht gefragt, sie fragte sich überhaupt nichts, aber sie war früher einmal ein neugieriges Mädchen gewesen. Ein Rest dieser Neugier ließ sich nicht hindern, den Kopf zu recken: »Warum?«
»Weil mir jemand gesagt hast, dass du kommen wirst«, erwiderte Mutter Margaret. »Er hat nicht gesagt, wann du eintriffst, nur dass ich dich willkommen heißen und dafür sorgen soll, dass du wie in einer Austernschale geborgen bist. Seitdem bin ich jede Woche einmal hinüber zum Torhaus von Fountains gelaufen, um zu sehen, ob du da bist, und ich habe Abt Henry, dem unsere Priorei untersteht, gebeten, mir bei deiner Ankunft umgehend Nachricht zu senden. Wochenlang bin ich gelaufen, habe für dich gebetet und gehofft. Kannst du dir vorstellen, mit welcher Freude ich dem, der mir von dir schrieb, die Nachricht von deiner Ankunft übersendet habe? Soll ich ihm gleich darauf schreiben müssen, ich habe auf dich nicht achtgegeben und du bist mir gestorben?«
»Wer ist der?«, fragte Amicia unwirsch.
»Jemand, der dich liebt«, antwortete Mutter Margaret. »Genügt das nicht?«
Vyves , sprang es Amicia an, es konnte niemand sein als Vyves. Vyves wusste, dass sie unterwegs nach Fountains Abbey war, und Vyves hatte sie immer geliebt. Zu essen und am Leben zu bleiben war unendlich schwer, aber sie wollte nicht, dass Mutter Margaret Vyves schreiben musste, seine Liebe sei nutzlos gewesen und Amicia sei gestorben.
Viel später, als die Nebel um ihren Verstand sich lichteten, war ihr klar geworden, welchen Unsinn sie sich zusammengereimt hatte. Keine zisterziensische Nonne, nicht einmal Mutter Margaret, wäre allwöchentlich von einem Kloster zum anderen gerannt, weil ein Jude sie darum gebeten hatte. Aber der Unsinn hatte sie am Leben gehalten, und völlig aus der Luft gegriffen war er nicht: Vyves hatte sie geliebt. Dafür das Sterben aufzuschieben war nicht der schlechteste Grund.
Das zarte, beinahe zirpende Läuten der Glocke ertönte, als Amicia sich nach der letzten Zwiebel in der Reihe bückte, sie aus der lockeren Erde zupfte und in ihren Korb legte. Der leise Ton rief zur Vesper, dem Abendgebet, nach dem die Bewohnerinnen der Priorei sich zu Tisch setzten.
Amicia lief, um den Korb in die Küche zu tragen und sich die Hände zu waschen. Die Kanalisation von Fountains Abbey war ein Wunderwerk, das die klaren Quellen der umliegenden Hügel nutzte und stets für fließendes Wasser sorgte, und die kleine Priorei profitierte davon. Sich zu waschen tat gut. Anfangs hatte Amicia ihre Hände nicht ansehen können, weil immer Blut daran klebte. Magdalenes Blut, Timothys Blut, das Blut des armen alten Hugh. Mutter Margaret hatte ihr erlaubt, ihre Hände am Gemeinschaftsbecken endlos unter die Ströme zu halten, und es hatte ihr ein wenig Erleichterung verschafft. Inzwischen sah sie ihre Hände wieder so weiß, wie sie waren, aber sie zu waschen war noch immer eine Wohltat.
Still, mit gesenkten Köpfen, wanderten die Schwestern zum Stundengebet. Amicia kniete in der abgeteilten Nische für die Novizinnen nieder. Derzeit teilte sie diesen Platz mit der jungen Martha, die im Frühjahr in die Priorei eingetreten war. In schöner Regelmäßigkeit waren Mädchen und junge Frauen gekommen, hatten ein Jahr lang mit ihr in der Nische gekniet, im Refektorium am Tisch der Novizinnen gesessen und im kleinen Dormitorium geschlafen, dann waren sie auf die Seite der Ordensschwestern gewechselt oder hatten das Kloster wieder verlassen. Nur Amicia war noch immer da.
Nach dem ersten Jahr hatte Mutter Margaret sie behutsam daran erinnert, dass eine Entscheidung anstand. Ihren Schrecken darüber spürte Amicia bis heute. Der Gedanke, die Mauern, die sie vor dem Leben abschirmten, wieder
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