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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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verlassen zu müssen, hatte sie mit würgender Furcht erfüllt, doch das Gegenteil – die Profess, die sie zum Bleiben verpflichtete – erschien ihr kaum weniger furchteinflößend. Anders als Mönchen war es Frauen, die das Gelübde geleistet hatten, nicht mehr gestattet, sich aus den Klostermauern zu entfernen. Ausnahmen wurden lediglich für Priorinnen und Äbtissinnen gemacht, die zu Zusammenkünften reisen und vor dem Mutterkloster Rechenschaft ablegen mussten.
    Aber das will ich doch!, regte sich eine Stimme in ihr. Hierbleiben, wo es immer still ist und nur der Ruf der Glocke mich daran erinnert, dass es mich gibt. Nie mehr einen Fuß nach draußen setzen, in die Welt, deren Regelwerk ich nicht begreife und nicht begreifen will. Nie mehr Todesschreie hören. Nie mehr Klingen in der Sonne blitzen sehen. Nie mehr Menschen erleben, die anders sterben als mit den Sakramenten versehen in ihrem Bett. Was sie davon abhielt, zu nicken und Mutter Margaret zu bitten, dem Kapitel ihre Aufnahme vorzuschlagen, ließ sich kaum in Worte fassen.
    Höchstens in einen Namen. Vyves.
    Wenn ich das Gelübde leiste, darf ich Vyves nie mehr sehen und weiß, dass ich den Brief an ihn nie abschicken werde. Ich werde nie mit Vyves zurück nach Carisbrooke reisen und dort stehen, wo Abel ermordet worden ist. Eines Tages werde ich bereit sein, dieses Nie-mehr anzunehmen, aber noch bin ich es nicht.
    Und es gab noch etwas: Wie konnte sie denn das Gelübde leisten und sich unter die frommen Schwestern mischen – sie, die bis zum Bersten erfüllt von Hass und Zorn und Kälte war, sie, die sich nächtelang ausgemalt hatte, wie ein Mensch zu Tode gequält und wie sein zerbrochener Körper in einen Brunnen gestoßen wurde, weil sie keine andere Freude mehr kannte?
    Mutter Margaret, die etliche Novizinnen betreut hatte, bemerkte ihr Zögern und fackelte nicht lange. »Wenn du es willst, kann ich dein Noviziat um ein halbes Jahr verlängern«, sagte sie, und aus dem halben Jahr war ein ganzes geworden, dann noch eines, und schließlich hatte Mutter Margaret nicht mehr gefragt. Wenn es Klagen gab, aus Fountains Abbey oder aus den eigenen Reihen, weil Amicia als ewige Novizin wieder einmal etwas war, das es nicht geben durfte, dann ließ Mutter Margaret sie nichts davon wissen. Der Zustand war Gewohnheit geworden, und er ersparte es Amicia, an ihr Innerstes zu rühren, an die Wunden, über die kein Schorf wuchs.
    Die Stimmen der Schwestern erfüllten die kleine Kapelle mit den Schlusszeilen des Magnificat . Darauf folgten die Fürbitten, das Gebet für Menschen, die des göttlichen Beistandes besonders bedurften. Wer es sich leisten konnte, ließ eine Fürbitte für einen geliebten Verstorbenen oder Kranken lesen, und jeden Abend sprach Amicia dabei stumm ein eigenes Gebet. »Herr, mein Gott, beschütze Stephen und Vyves. Lass ihnen kein Leid geschehen, gib ihnen jede Wohltat, und hab Dank für sie.« Es war ihr einziges Gebet. Sie sprach es, weil sie fand, kein Mensch habe es so sehr verdient wie Stephen und Vyves, und weil es ihr guttat, sich daran zu erinnern, dass es die beiden in ihrem Leben gegeben hatte. Dass Gott ihre Worte hörte, glaubte sie nicht. Gott war ihr so fern wie die Menschen, auch für ihn war sie nur ein bedeutungsloses Etwas, das es im Grunde gar nicht gab.
    So leise, wie sie eingezogen waren, zogen die Schwestern aus der Kapelle aus und gingen durch den Kreuzgang hinüber zum Refektorium, wo sie schweigend ihre Abendmahlzeit einnehmen würden. Die ganze Anlage war wie ein kleineres Abbild von Quarr, und das hatte Amicia geholfen, sich einzufinden. Sie fühlte sich fremd und vertraut zugleich, so wie sie es brauchte, um unbehelligt und in einer Art von Frieden ihr Leben zu fristen.
    »Novizin Agatha?«
    An der Tür des Refektoriums stand Mutter Margaret. Auch hier galt die Vorschrift zu schweigen, und wer sich während des Essens verständigen musste, der tat dies mit Zeichen. Nur der Priorin stand das Recht zu, von der Regel abzuweichen, wo es nötig war.
    Amicia verneigte sich. »Ehrwürdige Mutter«, sagte sie leise.
    »Komm nach dem Essen hinüber in mein Haus.« Damit drehte die Priorin sich um und ging, um ihren Platz am Tisch einzunehmen.
    Vom Gerstenbrot und dem gesottenen Lauch brachte Amicia kaum etwas herunter. Weshalb wollte Mutter Margaret mit ihr sprechen, noch dazu zu einer Zeit, zu der sie sich sonst zum Gebet zurückzog und von niemandem stören ließ? Den Versen aus dem Petrus-Brief, die Novizin

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