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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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der Seelen in göttlichen und menschlichen Dingen zum Ziel. Du hast Fountains Abbey gesehen, ihre große, stille, in den Himmel gerichtete Schlichtheit. Was hast du gedacht, was sie ist?«
    Amicia hatte gar nichts gedacht, sie war viel zu verzweifelt gewesen, um zu denken, doch sie dachte es jetzt: »Stein gewordene Liebe zu Gott.«
    »Und zu Gottes Schöpfung.«
    »Woher wisst Ihr, dass Euer Geliebter es lernt?«, fragte Amicia.
    Margarets Lächeln wurde geradezu verschmitzt. »Nun, anderenfalls hätte er dich nicht zu mir geschickt.«
    Die Antwort verschlug Amicia die Sprache. Wer ist er?, hätte sie am liebsten gerufen, aber im selben Atemzug begriff sie: Wenn ich es will, dann weiß ich das längst selbst. Sie schwieg.
    »Er hat sich so sehr Kinder gewünscht«, fuhr Margaret wie in Gedanken versunken fort. »Ich glaube, das war die grausamste Strafe, die er sich auferlegte: das Gelübde der Keuschheit zu leisten und nie ein Kind zu haben, einen Orden zu wählen, in dem die Mitglieder nicht einmal beim Essen ein Wort wechseln dürfen, und mit seinem warmen, starken Herzen nie wieder einen Menschen zu lieben.« Sie lachte. »Auf so eine dumme Idee kann nur ein Mann kommen, oder? Sind wir hier vielleicht still, weil wir uns nicht lieb haben dürfen? Weit gefehlt. Wir sind still, weil wir auf Gottes Stimme lauschen wie auf unsere Glocke. Aber wenn Gott durch die Stimme eines Menschen zu uns spricht, wenn Er lacht und flirtet und uns süße Nichtigkeiten in die Ohren säuselt, zwingt uns kein Gebot der Welt, Ihm die kalte Schulter zu zeigen.«
    Noch einmal lachte sie, dann musste sie husten und sprach weiter: »Ohnehin ist doch Gott viel zu raffiniert für uns. Meinem tapferen Liebsten in seiner Selbstkasteiung hat der Allmächtige das ersehnte Kind jedenfalls geradewegs am Torhaus abgeliefert. Und selbst wenn er seine geliebte Pflegetochter nicht bei sich behalten konnte, hat er immerhin dafür gesorgt, dass sie in liebevolle Hände kam.«
    Sie stand auf und begann vor dem Feuer auf und ab zu gehen. Vor der Brust verschränkte sie die Arme, als sei ihr noch immer kalt. »Aus diesen Händen müssen wir die Tochter, die wir doch noch teilen durften, jetzt aber in ihr eigenes Leben entlassen«, sagte sie. »Du hast früher recht gern Wein getrunken, oder? Ich habe ein wenig Wein für hohe Gäste im Haus, aber ich habe ja nie Gäste. Soll ich dir den einschenken, damit dir die Geschichte von dem jungen Mann und dem Brief ein wenig leichter über die Zunge rollt?«
    Als Amicia sich selbst lachen hörte, klang es in ihren Ohren, als klirrten die Schnallen an einem rostigen Pferdegeschirr. Aber ein bisschen klang es auch schon wie Lachen.
    Margaret schenkte Wein aus einem Zinnkrug in zwei Becher, und sie stießen miteinander an. »Auf die Liebe, Schwester.«
    Dann erzählte Amicia ihr von Vyves.
    Margaret setzte sich wieder auf ihren Schemel, nahm die Altardecke auf den Schoß und unterbrach sie kein einziges Mal. Wenn es sie entsetzte, dass der Freund ihres Zöglings jüdischen Glaubens war, ließ sie es sich nicht anmerken.
    Schwer atmend kam Amicia zum Ende. »Er hat mir den Brief geschrieben«, schloss sie. »Er will für mich da sein, wenn ich ihn brauche. Noch immer.« Seit vier Jahren hatte sie nicht mehr so lange gesprochen. Das Schweigen, das folgte, machte ihr ein wenig Angst, doch sie hielt es aus.
    »Trink noch etwas Wein«, sagte Margaret. »Wenn ich du wäre, hätte ich ihn nötig.«
    »Ihr werft mich nicht hinaus, nicht wahr?«
    »Und ob ich dich hinauswerfe«, erwiderte die andere. »Wie lange willst du denn noch hier darauf warten, dass jemand anders dir sagt, was du tun sollst? Solange du niemanden an dich heranlässt, kannst du Gottes Nähe so wenig finden wie die von Menschen. Deshalb schlage ich vor, du versuchst es jetzt einmal andersherum. Du nimmst deinen Mut zusammen wie eine echte insulanische Heldin und trittst diese Reise an. Ohne die fehlt dir ein Stück, und es könnte das Stück sein, mit dem du dich selbst heilen und weitergehen kannst. Wenn du dabei entdeckst, dass du die erstaunliche Treue dieses jungen Mannes dein Leben lang behalten willst, wirst du von deinem Glauben lassen und seinen annehmen müssen, und wie man das meistert, kann ich dir nicht sagen. Für mich ist die Synagoga blind wie ihre Statue am Münster von York, und allein durch die Ecclesia führt der Weg zum Heil. Aber sein Torhaus zum Himmel muss ein jeder selbst finden. Auch wenn ich keinen Rat für dich hätte, mein

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