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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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Martha während des Essens verlas, konnte sie nicht folgen, und sie war heilfroh, als den Schwestern gestattet wurde, sich zurückzuziehen, um zu schlafen oder still zu beten.
    Erregt, wie sie war, fiel es ihr schwer, sich zu zügeln und gemessenen Schrittes hinüber zu dem kleinen Steinbau zu gehen, in dem die Priorin wohnte. Auch auf Quarr hatte dem Vorstand des Klosters ein eigenes Haus zugestanden, erinnerte sie sich, aber Randulph hatte eine karge Zelle vorgezogen und es nie benutzt.
    Randulph. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie an den Abt nicht hatte denken können, ohne dass sich alles in ihr aufbäumte. Er war es gewesen, der sie dem Mörder anvertraut hatte. War er damit nicht ebenso ein Verräter wie jener? Das Schwert mit dem Drachen stammte aus der Kleiderkammer der Abtei – wie war es dorthin gekommen, und weshalb hatte Randulph es dem Mörder gegeben? Auf die Flut von Fragen würde sie niemals Antwort erhalten, und sie wollte auch keine, denn was sie wusste, war entsetzlich genug. Sie würde leben müssen, ohne den Grund für Randulphs Verrat zu kennen.
    Irgendwann bemerkte sie, dass sich andere Gedanken an Randulph einschlichen. Splitter von Erinnerungen wie die an das ungenutzte Abtshaus. Kurze Bilderfolgen, die hell oder sogar heiter waren und für Augenblicke die Kälte in ihr schmolzen. Nach einer Weile hörte Amicia auf, sich solche Gedanken zu verbieten. Sie würde Randulph nie wiedersehen. Es schadete niemandem, wenn ihre Seele ihn in zwei Randulphs teilte: in den Verräter, der sie einem Mörder ausgeliefert hatte, und in den grüblerischen, fürsorglichen Mann, der sie als verängstigtes Kind behütet und getröstet hatte.
    Der Abend war noch mild, aber der Sommer neigte sich dem Ende, und bald würden wieder die Nächte beginnen, in denen das Wasser bei den Pritschen gefror und man zur Laudes die steifen Finger nicht falten konnte. Jahr für Jahr sehnte Amicia diese Zeit herbei. Sie war hart und leer wie ihr Herz und bereitete ihr keine Schmerzen, wie es das Singen eines Sommerabends zuweilen immer noch vermochte.
    »Amicia.«
    Wie lange hatte sie dieses Wort von keinem Menschen mehr gehört? Sie fuhr herum und sah die kleine Priorin keinen Schritt weit hinter sich stehen. »Komm ins Haus. Mir ist daran gelegen, dass unter uns bleibt, was wir zu besprechen haben.«
    Amicia folgte ihr schweigend. Weshalb nannte Mutter Margaret sie beim Vornamen? In der spärlich möblierten Stube brannte ein Feuer. Es war das Vorrecht der Priorin, in warmen Räumen zu schlafen, aber dass sie an diesem lauen Septemberabend einheizte, verwunderte Amicia.
    »Mir ist jetzt oft kalt«, sagte sie, als erriete sie Amicias Gedanken. »Das ist einer der Gründe, aus denen ich dich sprechen wollte. Setz dich.«
    Amicia setzte sich auf die Holzbank neben der Tür. Mutter Margaret nahm auf einem Schemel am Tisch Platz und hob die Altardecke auf, an der sie seit Längerem stickte. Obwohl es im Zimmer inzwischen zu dunkel für Handarbeit war, zupfte sie an den Fäden, als wolle sie etwas ausbessern. Dann schob sie blitzschnell die Decke zurück und griff nach einem schmalen Päckchen, das daneben lag. »Und dies hier ist der andere Grund«, sagte sie, ohne Amicia aus den Augen zu lassen. »Ein Bote hat es für dich in Fountains abgegeben. Ein teurer Bote. Zumindest nehme ich an, dass ein Bote, der einen Brief von Dover bis hierher trägt, ein beträchtliches Vermögen kostet. Du kannst von Glück sagen, dass ich zufällig dort war und Abt Henry überzeugen konnte, das Corpus Delicti nicht öffnen zu lassen.«
    Sie hielt das Päckchen hoch und ließ es in der Luft baumeln. Amicia spürte, wie ihr die Finger zitterten. Mit aller Kraft musste sie dagegen kämpfen, aufzuspringen und das Päckchen an sich zu reißen. Hatte sie den Verstand verloren? Was immer es war – es kam aus der Welt, die sie vergessen wollte, weil sie ihr nichts als Schmerz bereitet hatte.
    »Amicia!« Scharf rief die Priorin ihren Namen. Dass sie gleich darauf husten musste, tat der Wirkung kaum Abbruch. »Nimm es. Mach es auf. Und dann sprich mit mir über die Liebe.«
    Wie im Taumel erhob sich Amicia, durchmaß auf zitternden Beinen den Raum und nahm das Päckchen an sich. Der Gegenstand, der sich darin befand, war in mehrere Tücher gewickelt und mit Stricken verknotet, als hätte der Absender Angst gehabt, jemand könne den Inhalt ertasten. Amicia brauchte lange, um es zu öffnen, doch nachdem sie die erste Schicht abgewickelt hatte, war sie

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