Kains Erben
den Täter mit einem Kainsmal versieht. Eine Zeit lang kam es mir vor, als hätte Er uns alle damit versehen. Vor allem meinen arglosen, redlichen Geliebten, dem die Last der Schuld das Rückgrat brach. Mit dem Wissen, das Unsägliche nicht verhindert zu haben, konnte er sein eigenes Leben nicht weiterverfolgen. Was er wollte, war Buße, Sühne, Bestrafung. Um seinen Bruder nicht hassen und anklagen zu müssen, hasste und beklagte er sich selbst. Niemand hielt ihn von der Wahl, die er traf, ab. Er warf sich bäuchlings in den Staub, ließ sich sein hübsches Haar scheren und schloss sich einem Orden an, der für seine erbarmungslose Härte und Strenge bekannt war. Den Zisterziensern.«
»Und Ihr?«, barst es aus Amicia heraus.
Margaret zuckte mit den Schultern. »Ich war, glaube ich, vor Schrecken willenlos. Unfähig, zu denken oder zu handeln. So wie du. Als meine Mutter mich in eine Abtei von Benediktinerinnen gab, war ich froh, irgendwo unterzukommen, und habe mich gefügt.«
»Und Euren … Geliebten? Habt Ihr ihn nie wiedergesehen?« Noch während Amicia die Frage stellte, bildete sich in ihrem Kopf eine Antwort: Ich muss Vyves wiedersehen. Ich kann sonst nichts entscheiden.
»Doch«, erwiderte Margaret. »Jahre später und nur ein paar Herzschläge lang. Wir waren beide inzwischen zu Abt und Äbtissin aufgestiegen, wir hatten die richtigen Familien und die richtige Besessenheit dazu. Wir trafen einander noch einmal, weil unsere Geschwister uns brauchten. Meine Schwester, die das Erbe unseres Bruders angetreten hatte, sollte mit einem Prinzen von England verheiratet werden, um dieses Erbe der Krone zurückzubringen. Sich weigern durfte sie nicht – sie konnte sich nur durch die Flucht in ein Kloster entziehen. Der Bruder meines Geliebten wollte mit ihr reiten und bat meinen Geliebten um sein Geleit. Unter dem Schutz eines Geistlichen waren sie während der Reise sicher und kamen unbehelligt an. Wir hätten uns allerdings fragen sollen, warum ausgerechnet sein Bruder einen Plan seines Königs zu vereiteln suchte. Der Grund war bestechend simpel. Sprechen wir weiter über die Liebe, Amicia. Dieser grimmige Frauenverächter hatte sich in meine Schwester verliebt. Er war überzeugt, sie sei die einzige Frau auf der Welt, und wenn sie ihm erst gehörte, würde sie selbstredend ihm – und damit der Krone – ihr Erbe überlassen.«
»Und Eure Schwester? Hat sie ihn auch geliebt?«
»Sie hat ihn benutzt«, antwortete Margaret. »Einen Mann zu benutzen, der liebt, ist gefährlich, erst recht einen solchen Mann, der es nicht erträgt, gedemütigt zu werden. Was sie dadurch auf sich zog, mag sie in ihren bösesten Träumen nicht geahnt haben. Wen sie selbst geliebt hat, weiß ich nicht. Vielleicht immer nur unseren Bruder, der ihr viel zu früh genommen wurde. Vielleicht aber auch einen wilden Kerl, den sie beide von klein auf kannten, der ihre Erinnerungen teilte und der ihr als Einziger gewachsen war. Wie auch immer, das ist ihre Geschichte. Die meine ist hiermit zu Ende, und es wird Zeit für deine.«
»Aber sie kann doch nicht zu Ende sein!«, protestierte Amicia. Dann schlug sie sich auf den Mund. »Verzeiht«, murmelte sie. »Die Geschichte ist so furchtbar traurig. Ich hätte Euch so sehr gewünscht, Ihr hättet mit Eurem Geliebten leben können.«
Margarets Blick traf den ihren. Ihre Augen waren leuchtend grün, und ihr Lächeln zauberte Kränze um sie. »Auf unsere eigene Weise tun wir das vielleicht. Ich jedenfalls konnte einfach nicht aufhören, Schriften der Zisterzienser zu lesen. Sooft ich mich damit befasste, fühlte ich mich ihm nah, und als ich erfuhr, dass bei Fountains Abbey eine Zelle für Frauen begründet werden sollte, verließ ich meinen Orden und kam hierher. Ich glaube, wir stehen beide gut an dem Platz, an den wir gestellt sind. Und wenn ich mich nicht irre, ist mein Liebster auf dem besten Weg, zu guter Letzt noch zu lernen, worum ich Gott tagaus tagein für ihn gebeten habe.«
»Was?«, fragte Amicia. Es kam ihr nicht einmal mehr seltsam vor, dass die Priorin eines Klosters einen Mann ihren Liebsten nannte.
Margaret lächelte noch immer. »Er lernt, dass das Leben in diesem Orden nicht auf gnadenlose Härte und strengste Strafen gerichtet ist. Sondern auf die größtmögliche Nähe zu Gott. Nähe ist warm, Amicia. Sie ist lebendig, und sie erlaubt uns, zu lachen und zu singen. Carta Caritatis heißt unsere Verfassung. Sie hat, so steht es darin, allein die Liebe und das Wohl
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