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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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könnte mir jemand vielleicht von diesem Tier hinunterhelfen?«
    Mit drei Schritten war Amicia bei ihm, ließ dabei wieder einmal die Zügel ihres Pferdes los und sah es gleich darauf erschreckt von einem aufflatternden Huhn in den zweiten Hof davonstieben. Der Tumult war ein Segen, obgleich es ihr peinlich war, sich so töricht verhalten zu haben. Während die Stallknechte das Pferd wieder einfingen und Amicia Vyves behilflich war, hatte Roger Zeit, sich um ein anderes Quartier zu kümmern.
    Nach kurzer Zeit kam er zurück und teilte ihr mit, dass sie in anderen Gästeräumen neben der Halle untergebracht werde. Als Vyves ihnen folgen wollte, wies er ihn zurück. »Du wartest hier. Um dich kümmert sich jemand vom Gesinde.«
    »Vyves bleibt bei mir!«, rief Amicia empört. »Ohne Vyves gehe ich nirgendwohin.« Auch dieser Satz rührte an eine Erinnerung; sie glaubte, Abel zu hören, wie er die Worte vom bindenden Versprechen sprach, und dann schoss sie zu Roger herum. »Und Ihr behandelt Vyves gefälligst mit Respekt!«, fuhr sie ihn an. »Er ist nicht mein Diener, falls Ihr das angenommen habt. Er ist mein Verlobter.«
    Die Stille schien in den Hof zu fallen wie ein Schlauch mit Wasser, den sie als Kind von einer Zinne geworfen hatte. Es ist mir gleichgültig, dachte sie. Was sie hier oder anderswo von mir denken, ob ich meinen Glauben wechseln muss und ob alles Lieben in mir zerbrochen ist – ich will Vyves nicht noch einmal im Stich lassen. Hier war er zurückgeblieben, nachdem die Männer sie nach Quarr verschleppt hatten. Hier hatte man seiner Familie die Lebensgrundlage entzogen, um ein Kind dafür zu bestrafen, dass es mit einem Haufen Bewaffneter nicht fertiggeworden war. Kurz darauf war sein freundlicher, sanfter Vater als Münzfälscher hingerichtet worden. Seine Liebste – Amicia – hatte ihm einen entmenschten Mörder vorgezogen, und dennoch war er mit ihr hierher zurückgekehrt, damit sie den Schlüssel zu ihrer Vergangenheit fand.
    Es ist das letzte Mal, beschloss Amicia. Die Insel war der schönste Ort auf der ganzen Welt, sie war viel mehr als das, aber sie und Vyves würden zurück nach London gehen, um dort unter seinen Leuten zu leben.
    In diesem Augenblick schwangen die Türflügel des Westturms neben der Kapelle auf, und ein Mann stürmte heraus. Im Schnitt glichen seine Kleider denen von Klerikern, doch sie waren weit prächtiger, als selbst Abt Henry von Fountains sie trug.
    Amicia erstarrte. Sie hatte sich als Kind vor diesem Mann gefürchtet, und sie fürchtete sich jetzt mehr denn je. Sie wollte zurückweichen, aber Adam de Stratton war schneller. »Mein kleines süßes Mädchen!«, rief er, riss sie in die Arme und küsste ihr Gesicht. »Willkommen zu Hause, endlich, endlich willkommen zu Hause!«
    Als er von ihr abließ und den Kopf hob, sah Amicia, dass sein Gesicht tränennass war und dass ihm unaufhörlich neue Tränen aus den Augen strömten. Amicia wollte den Augenblick nutzen, um aus seiner Umarmung zu flüchten, aber Adam hatte inzwischen offenbar Rogers zornigen Blick bemerkt und gab sie unaufgefordert frei.
    Das Quartier, in das Roger sie Augenblicke später führte, bestand aus einer Flucht von drei Zimmern, die an Komfort und Geschmack nicht zu überbieten waren. Sie blieben den ganzen Tag dort, ohne dass noch einmal jemand versuchte, Vyves von ihr zu trennen. Zu Mittag und noch einmal zum Abend wurde ihnen eine Unzahl üppiger Gerichte serviert, wie Amicia sie aus ihrer Kinderzeit kannte. Die Mahlzeiten ihrer Klosterjahre und ihrer Reisen fielen ihr ein – mit Sorgfalt aus knappen Zutaten zubereitet und mit echtem Hunger verzehrt. Vor den auf Silber aufgetürmten Köstlichkeiten verschnürte sich ihr Magen.
    Konnten die Speisen sie nicht verlocken, so tat es der Wein, der mit dem Abendessen auf den Tisch kam. Er war sämig und eher schwarz als rot. Amicia, die zermürbt von der Spannung des Wartens war, trank ihn wie Wasser, hastig und unverdünnt. Er verlieh der Schärfe ihrer Eindrücke etwas Vages und milderte die Wucht ihrer aufgepeitschten Gefühle.
    »Du hättest das vorhin nicht sagen dürfen, Liebes«, mahnte Vyves sie. »Ich will nicht, dass du dich meinetwegen in Schwierigkeiten bringst.«
    Sie sagte nichts, sah ihn nur an.
    »Hab trotzdem Dank. Einen Herzschlag lang war ich der meistbeneidete Mann der Insel.«
    Sie sprang auf und riss ihren Kelch in die Höhe. »Auf uns! Auf die Amsel von Carisbrooke und Vyves ben Elijah und auf die Verlobungsfeier, auf die

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