Kains Erben
schloss sie sie mit einer Hand. Er nickte ihr aufmunternd zu und bemühte sich um ein Lächeln. »Ich bleibe wach und warte auf dich.«
Amicias Blick riss sich los. Mit jagendem Herzen folgte sie Isabel hinaus in die Nacht.
Hintereinander überquerten sie den Hof. Früher hatten die Bogenschützen auf der Kurtine miteinander getuschelt, an Feuern im Hof hatten sich Wachen die Hände gewärmt, und vom Torhaus war Gewieher von Pferden hergedrungen. Jetzt gab es von alledem nichts. Das Schweigen war so allumfassend, als wären die beiden Frauen die einzigen Menschen auf der Burg.
Sie waren nicht die einzigen Menschen. Als ein Diener einen Türflügel der Halle aufschob, sah Amicia den Mann, der bei dem hohen Feuer saß. Adam de Stratton.
»Geh schlafen«, sagte Isabel zu dem Diener. »Heute Nacht wird keiner von euch mehr gebraucht.«
Amicia wollte fliehen, Isabel aber hatte sie bereits in den riesenhaften leeren Raum gezogen und die Tür hinter ihnen verriegelt. Die einzigen anderen Öffnungen waren die kunstvoll ausgemalten Fenster – viel zu hoch, um sie zu erreichen.
Ich muss mich nicht fürchten, sagte sie sich und ballte die Fäuste, von denen eine noch immer das zerfetzte Kleid umklammert hielt. Randulph hat gesagt, ich muss mich nicht fürchten, und Margaret hat es auch gesagt … Margaret. Sie schwang herum, sah Isabel in die Augen, und die Erkenntnis sprang ihr ins Gesicht: Isabel war die Schwester. Margarets Schwester, die mit Randulphs Bruder ein Spiel getrieben und damit seine Rache auf sich gezogen hatte. Das Erbe, um das sich all dies drehte, war die Insel, und aus dem Kloster hatte sich Isabel befreit, indem sie Aveline, ihre eigene Tochter, an den ungewollten Bräutigam verschacherte.
Amicia konnte den Blick nicht abwenden. In ihrem Kopf fielen so viele Teile an ihren Platz, dass sie nicht mitkam. Vor einigen verschloss ihre rasende Furcht ihr den Blick – vor denen, die sie selbst und Abel zeigten und den Mann, an den sie um keinen Preis denken wollte.
»Setz dich, Amicia«, sagte Isabel und wies auf einen gepolsterten Stuhl, der dem von Adam gegenüberstand. Jetzt, wo sie allein waren, war die Förmlichkeit wie weggeblasen. Isabel sprach mit ihr, wie sie es getan hatte, als Amicia ein Kind gewesen war und sich vor dem Fenster in ihrem Zimmer hatte niedersetzen dürfen, um das kostbare Buch zu betrachten oder sich die Insel zeigen zu lassen. Den Ort, um glücklich zu sein.
Bei jedem der Polsterstühle stand ein Serviertisch mit poliertem Silbergeschirr: einem Krug mit Wein, einem Becher und einer Platte mit kandiertem Obst. Das Feuer loderte kräftig, sodass Amicia wenigstens für Augenblicke Wärme spürte. Nur durch ein paar Schritte von ihr getrennt saß Adam de Stratton und musterte sie. Irgendwie gelang es ihr, die Fetzen des zerrissenen Kleides so zurechtzurücken, dass sie es loslassen und die Hände im Schoß umeinanderkrampfen konnte. Unvermittelt sah sie zwei Handgelenke vor sich, die bis tief aufs Fleisch zerkratzt waren. Damals hätte sie Matthew am liebsten die Hände festgebunden, damit er sich nicht länger solche Wunden riss. Heute musste sie sich hindern, sich selbst vor Angst die Nägel in die Haut zu graben.
Ein Laut entfuhr ihr. Hatte sie nicht genug zu bestehen, konnte sie nicht wenigstens aufhören, an den verhassten Toten zu denken?
»Trink Wein, Amicia. Er stammt aus Sizilien. Mein Bruder Baldwyn und sein Freund, der strahlende Gregory de Camoys, haben als junge Männer den italienischen Stiefel bereist und seine kostbarsten Gaben heimgebracht. Einen Gesang, der Steine erweicht, einen Wandteppich, in den das Licht des Südens geknüpft war, und diesen Wein. Er ist eine Offenbarung.«
Amicia rührte den Wein nicht mehr an. Gregory de Camoys, hämmerte es in ihrem Kopf. Randulphs Bruder. Der strahlende Älteste.
Adam de Stratton warf sich in den Rücken wie ein Pferd, das sich gegen sein Geschirr sträubt. »Lass uns nicht länger fackeln, Isabel. Ich ertrage es nicht länger.«
»Ha!« Isabel, die sich inzwischen in den Stuhl gesetzt hatte, der mit den ihren einen Halbkreis bildete, sprang wieder auf. »Du erträgst es nicht länger? Wie lange habe eigentlich ich ertragen müssen, was du mir verschwiegen hast? Ich wusste zwölf Jahre lang nicht, dass Amicia lebt, und ich werde nicht aufhören zu fackeln, bevor du mir sagst, warum du mir das angetan hast – zu allem anderen auch noch das?«
Vyves, hilf mir, flehte Amicia stumm, bitte komm und hol mich hier
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