Kains Erben
wir siebzehn Jahre lang gewartet haben!« Woher auf einmal der süffisante Tonfall und die ätzende Bitterkeit kamen, wusste sie selbst nicht. Sie setzte den riesigen Kelch an und leerte ihn in einem Zug bis zur Hälfte. »Und jetzt du, mein Bräutigam!« Mit einem Arm umschlang sie Vyves’ Hals, küsste ihn auf den Mund und hielt ihm dann den schwarzen Wein an die Lippen. »Trink auf unsere Zukunft, mein Herzensgeliebter! Heute Nacht darfst du mich lieben, wie du es dir in deinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt hast.«
Sie stellte den Kelch ab, griff sich mit beiden Händen in den Ausschnitt des Kleides und zerriss es bis hinunter auf den Bauch. »Was starrst du mich so an? Weshalb soll nicht mein rechtmäßiger Bräutigam mich haben, wo mich ein hergelaufener Betrüger hatte? In den Armen des Teufels habe ich vor Lust gewinselt wie die tollste Hure! Ich habe ihm den hübschen Mund wund geküsst und den hübschen Schwanz erst recht, und alldieweil hat er mir Lügen wie kandierte Trauben in die Ohren geträufelt und hatte doch hier, hier auf Carisbrooke Castle, meinen kleinen Bruder umgebracht.«
»Hör auf!« Vyves sprang auf, stieß mit dem Ellbogen den Kelch um und packte sie mit einer Härte, die sie nicht von ihm kannte. »Hör auf damit, Amicia, hör um alles in der Welt damit auf! Er hat deinen Bruder nicht umgebracht. Du kannst ihn hassen, du kannst ihn in die Hölle wünschen dafür, dass er zu feige war, dir die Wahrheit zu sagen. Du kannst alles Übel der Welt auf ihn häufen! Aber du kannst nicht eines von uns Kindern zum Mörder stempeln, weil es nicht fähig war, Abels Tod zu verhindern. Weißt du nicht am besten, wie schwer es ist, damit zu leben? Wissen wir das nicht alle? Nur habe ich mit ihm und dir mehr Mitleid als mit mir, weil nicht meiner, sondern eure Väter die Täter waren.«
Amicias Körper wurde steif und begann gleichzeitig, wie welkes Laub zu zittern. »Weshalb sagst du das?«, flüsterte sie. »Eure Väter?«
Vyves ließ von ihr ab und drehte sich weg. »Adam de Stratton ist ein schöner Mann«, sagte er, und jetzt klang er so trunken wie zuvor sie. »Ein Blinder hätte es vermutlich gesehen, aber ich sah nichts. Für mich war er nie mehr als ein erzböser Bube, der nicht nur uns Kinder, sondern das ganze Land das Gruseln lehrte. Und das andere hätte ich dir längst sagen müssen. Vermutlich habe ich es nicht getan, weil es mir bestens passte, dass du in Matthew de Camoys den Ausbund des Bösen sahst. Geh und frag, wen du willst – deinen Master Tom, seine Frau aus den Alpen, ihren prächtigen Sohn, sie sagen dir alle das Gleiche: Der Ausbund des Bösen ist er nicht. Im Gegenteil. Falls es den Ausbund des Bösen überhaupt gibt, hat er ihn zum Vater, und wenn das aus einem Knaben kein Ungeheuer macht, muss er ein erstaunlich kraftvolles Herz haben. Das Einzige, was du ihm vorwerfen kannst, ist seine Feigheit, wegen der er dir die Wahrheit verschwieg. Und um ehrlich zu sein: Wenn ich dich anschaue, meine Sternengeliebte, hätte ich an seiner Stelle dasselbe getan.«
»Matthew de Camoys schert mich nicht«, flüsterte sie, was, wie sie mit neuem Schaudern spürte, gelogen war. »Mich schert Adam de Stratton.« Das war nicht gelogen.
»Ich habe endlich gesagt, was meine Pflicht war«, antwortete Vyves erschöpft und ließ sich in den Lehnstuhl fallen. »Adam de Stratton kann die seine allein erfüllen.«
Ehe Amicia noch einmal zu Wort kam, klopfte jemand an die Tür. Nicht wie einer, der höflich um Einlass bat, sondern wie einer, der bekannt gab: Jetzt komme ich. Sogleich schwang die Tür auf, und in der Öffnung stand Isabel de Fortibus. Die Herrin der Insel. Das Licht der Kerzen fiel auf ihr Gesicht und auf das grüne Kleid, das sie trug. Grün wie ihre Augen. Sie war noch immer die schönste Frau der Welt.
»Mistress Amicia? Ich bitte Euch zu einer Unterredung hinüber in meine Halle. Euer Begleiter möchte sich vielleicht inzwischen schon zu Bett begeben. Im Pagenzimmer steht ein Diener bereit, falls er noch etwas braucht.«
Vyves kommt mit, wollte Amicia sagen. Ohne Vyves wage ich in deiner Burg keinen Schritt. Stattdessen starrte sie die Frau an, die ihr vollkommen fremd war und die sie dennoch erkannte. Sie wusste: Bei dem, was ihr hier bevorstand, würde Vyves ihr nicht helfen können.
Er berührte ihren Arm. »Geh nur. Es macht mir nichts aus.« Dann wies er verlegen auf ihren Ausschnitt, von dem die zerrissenen Teile des Kleides hingen. Nicht minder verlegen
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