Kains Erben
er sein Wort bricht, erklärt, darum ginge es nicht.«
»Verdammt nochmal, Randulph, hör mir doch endlich zu!« Mit einem Satz sprang Matthew auf die Füße und versperrte dem Abt mit seiner raumgreifenden Präsenz die Sicht. »Ich suche überhaupt nicht Amicia, sondern den Mann, der bei ihr ist und den ich um jeden Preis finden muss. Seine Familie weiß nicht, wo er sich aufhält. Nur dass er zu Amicia wollte.«
»Und wer ist dieser Mann?«
»Er heißt Vyves fil Elijah. Solange er hier auf der Insel lebte, auch bekannt als Vyves Chantor.«
Randulph sah zu ihm auf. »Du weißt, dass das der Mann ist, den Amicia heiraten will, und wenn er hundertmal Jude ist?«
»Ja«, erwiderte Matthew kalt. »Aber dazu muss ich ihn finden, weil sie sonst noch vor der Hochzeit Witwe ist.«
39
D
er angebliche Pferdehändler, der sie abgeholt hatte, hieß Roger und war Isabels Stewart. Der Herr de Stratton besorge meist die Aufgaben des Stewarts, erklärte er. Er selbst erledige dafür, was eben anfiele. Mit geradezu aufgesetzter Munterkeit hatte er weitergeplappert, als sei er nicht nur zu ihrem Geleit entsandt, sondern zugleich mit ihrer Unterhaltung beauftragt.
Amicia war froh darüber, denn so entstand kein beklemmendes Schweigen, in das der Galopp ihres Herzens hätte hallen können. Vyves, den der Stewart ohnehin nicht beachtete, hatte alle Hände voll damit zu tun, sich auf dem Pferd zu halten. Er folgte ihnen, nicht länger wie Amicias Gefährte, sondern wie ein Bediensteter, der Abstand hielt. Es widerstrebte ihr, doch im Augenblick vermochte sie nichts dagegen zu tun.
Verblüfft stellte Amicia fest, dass das Gerede des Stewarts ihr vertraut und verständlich war, als hätte sie erst vor Tagen zum letzten Mal über Einzelheiten aus dem Leben auf einer Burg geplaudert. Diese Verblüffung nahm ihr den Atem, sobald Carisbrooke in Sicht kam, und sie steigerte sich noch, als sie den Weg zum Torhaus hinaufritten. Das Fallgitter, das sie nur verschlossen kannte, war hochgezogen, aber alles, was dahinter auf sie wartete, sah aus, als sei sie niemals fort gewesen.
Hier hatten sie zu fünft Verstecken gespielt. Hier war sie die Mauer hinaufgeklettert, während der arme Abel sich vor Angst um sie die Bruche nass gemacht hatte. Dort hatten Abel und Vyves mit Kalkstein ein Tables-Brett auf das Pflaster gezeichnet, und drüben beim Kräutergarten hatte Aveline mit ihrer Handarbeit gesessen, in die sich im Laufe des Tages so viele Knoten schlichen, dass sie abends nicht mehr zu gebrauchen war. Quarr wiederzusehen, die Hütte, in der sie gelebt hatte, und die Mauern, die wie der Inbegriff des Friedens in ihrem Bett aus Grün schliefen, war überwältigend gewesen, aber dies hier ging weiter; es trieb sie über die Grenzen ihrer Kraft. In Quarr war sie froh gewesen, weil Randulph sich zurückgehalten und verstanden hatte, dass sie nicht auch noch Menschen ertrug. Wie würde es hier sein? Beim Gedanken, im nächsten Augenblick könne aus einer der Türen Isabel auftauchen, wurde ihr übel.
Die große Isabel. Die Herrin der Insel. Die schönste Frau der Welt.
»Ich bin müde von der Reise«, rief sie hastig. »Ich will niemanden sehen, ehe ich mich ausgeruht habe.« Seltsamerweise klang sie nicht wie sie selbst – die Wahl der Worte entsprach ihr nicht. Sie klang wie Isabel, die von einer Reise zurückkam, noch im Trab vom Pferd sprang und Bedienstete und Kinder, die ihr entgegenstürmten, mit erhobener Gerte zurückwies. Packt Euch. Ich will allein sein. Ich bin müde von der Reise.
»Wie beliebt, Mistress.« Steif stieg Roger aus dem Sattel. »Die Gräfin hat dies bereits vermutet und Gemächer in den Gästequartieren für Euch herrichten lassen.«
»Beim Donjon?«, entfuhr es Amicia. Über ihren Rücken jagten Schauder, und erste Vorboten des Schwindels packten sie. »Das geht nicht. Dort kann ich nicht bleiben.« Mit Verspätung und nur am Rande fiel ihr auf, dass der Stewart sie ansprach, als sei sie wahrhaftig Isabel. Sie hätte ihm sagen müssen, dass sie keine Mistress war und keiner formalen Anrede bedurfte, aber dazu fühlte sie sich zu schwach.
Weshalb tat Vyves nichts? Weshalb stand er ihr nicht bei und bestätigte, dass man sie beide unmöglich in Quartieren unterbringen konnte, die an den Brunnenhof grenzten? In Quartieren, zu denen sie damals aufgeschaut hatten, als das Entsetzliche geschah.
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, murmelte Vyves und erlöste damit den um eine Antwort ringenden Roger. »Aber
Weitere Kostenlose Bücher