Kains Erben
Schultern straffte und doch blieb, was er war: ein kleiner, schmächtiger Mann.
»Hah!« Der Befehlshaber entblößte beim Lachen einen spitzen Eckzahn. »Dein ist, was der Hund macht, Jude. Und den Urgroßvater kannst du mitnehmen, wenn’s dir gefällt. War doch eine schöne Zeit, als alle verreckten Juden nach Cripplegate geschleppt werden mussten, anstatt uns die Friedhöfe zu verpesten. Der König hat dem Constable den Befehl erteilt, Windsor judenfrei zu machen, und bis zum Vesperläuten ist der Befehl ausgeführt, ob es dir schmeckt oder nicht.«
»Ihr wollt meine Familie aus ihrem Haus vertreiben? Meine Familie, die hier mehr Jahre gelebt hat, als Ihr zählen könnt?« Gideon sprang vor.
Einen Wimpernschlag lang verwischte das Bild vor Vyves’ Augen, und Vyves glaubte, selbst vorzuspringen, eine viel zu kleine, zu schmächtige Gestalt, die einem bewaffneten Haufen trotzte. Er sah ein hämisches Lächeln und einen Schwertgriff, der auf sein Gesicht zuschoss.
»Nur über meine Leiche!«, rief Gideon im selben Augenblick. »Meine Familie rührt niemand an!«
Die kleine Noya hob an zu brüllen, und Esther schrie: »Hör doch auf, Gid, hör um des Himmels willen auf!«
Etwas blitzte in Gideons Hand: das Messer, das er im Gürtel trug, um damit Brot und Obst zu schneiden. Der Befehlshaber mit dem Eckzahn lachte, schob das Schwert zurück und versetzte Gideon einen Fausthieb an die Schläfe. Der taumelte zurück, fing sich und schoss mit erhobenem Messer erneut auf seinen Gegner zu. Gelassen, beinahe träge hob dieser die Lanze und stieß den Angreifer zurück. Ehe Gideon sich wieder fangen konnte, gab er seinem Nebenmann ein Zeichen. Der schwang einen Knüppel und schlug ihn Gideon vor die Stirn, sodass dieser in sich zusammensackte.
»Du bist verhaftet, Jude«, sagte der Befehlshaber, während er die Stange der Lanze abwischte. »Los, nehmt ihn mit. Wir haben noch drei von diesen Rattennestern vor uns.«
Zwei der Männer bückten sich, um Gideon die Hände zu binden.
»Gideon!« Mit dem brüllenden Kind im Arm wollte die schwangere Esther zu ihm stürzen, aber Deborah und Miriam hielten sie zurück.
»Bring das Balg zum Schweigen, oder ich stech’s ab«, drohte der Befehlshaber. »Und jetzt hoch mit dem Kerl.«
»Lasst ihn«, sagte Vyves und trat einen Schritt vor.
»Wie bitte?« Der Befehlshaber wandte sich ihm zu.
»Wir packen unsere Sachen und sind in einer Stunde hier weg«, sagte Vyves. »Lasst den Mann laufen.«
»Und warum, beim Satan, sollte ich das tun?«
Vyves zuckte mit den Schultern. »Weil es Euch weniger Arbeit macht. Weil Ihr auch Kinder daheim habt, auch von Frauen geboren werdet und irgendwann sterben müsst.«
»Willst du etwa behaupten, ich hätte mit deinesgleichen etwas gemein?«, fuhr der Mann auf und schloss die Hand um den Schwertgriff.
Vyves sah ihn eine Weile lang an, ohne zu sprechen. »Ich will gar nichts behaupten«, erwiderte er dann. »Ich verspreche Euch, dass wir hier weg sind, ehe Ihr aus der Oberstraße zurück seid.«
»Du willst also verhandeln. Hast du mir denn etwas anzubieten, Jude?«
»Nein. Nichts.«
»Aber betteln kannst du?«
»Ja«, sagte Vyves. »Ich flehe Euch an: Lasst den Mann in Frieden.«
Der Befehlshaber zog das Schwert und wies mit der Spitze auf den Boden. Vyves sank auf die Knie. Einer der Männer spuckte im Bogen aus, dass der Speichelfetzen eine Handbreit vor Vyves auf die blank gewetzten Dielen traf. Der Befehlshaber streckte einen Fuß vor, und Vyves beugte sich vornüber, schloss die Augen und küsste die Spitze seines Schuhs. Eine Zeit lang herrschte Schweigen, selbst Noya hatte zu brüllen aufgehört.
»Wenn wir zurückkommen, seid ihr hier weg«, sagte der Befehlshaber endlich. »Oder ich mache ein Ende mit euch allen.«
Vyves bedankte sich nicht. Sein Gaumen war so trocken, dass jedes weitere Wort ihm im Mund zerbröckelt wäre.
Der Befehlshaber trat ihm auf die Hand, zog den Fuß jedoch zurück, bevor der Schmerz unerträglich wurde. »Los, raus mit euch, in die Oberstraße«, bellte er seinen Männern zu.
Unter schweren Schritten bebte der Boden. Die Tür schloss niemand. Leichter Wind ließ sie in den Angeln tanzen.
Gideons leises Weinen schwoll an. Esther lief zu ihm, fiel samt Kind und schwangerem Leib auf die Knie und stimmte in sein Weinen ein. Miriam stand mit hängendem Kopf beim Tisch. Als sie die Hände aufstützte, stieß sie gegen einen der Granatäpfel, der polternd die Platte entlangkullerte.
»Ich gehe
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