Kains Erben
doch Dienst für den König, weil der Baron dem König Ritterdienste schuldete. Genügte das, um sich die Ritter der geheimnisvollen Gräfin zum Feind zu machen? Waren auch diese Männer Ritter der Gräfin? Gehörten sie zu jenen, die ihren Herrn Matthew beinahe getötet hatten?
Magdalene schüttelte die beklemmenden Gedanken ab. »Ich muss die Schweine in den Pferch bringen. Wenn ihr mir nicht glaubt, dass ich von all diesen Mädchen und Rittern nichts weiß, dann kann ich es nicht ändern.« Sie reckte den Hals, warf ihr Haar zurück, als wäre es noch lang, und schritt so hoheitsvoll davon, wie es ihr möglich war. Sie würde es niemandem sagen und von niemandem Dank erhoffen, doch in ihrem Innern wusste sie: Sie hatte an diesem Abend die Amsel und ihren Herrn Matthew vor Schlimmem bewahrt.
Im Gleichmaß glitten die Tage dahin. Auch als schon Schnee lag, gab es noch immer genug im Freien zu tun. Magdalene hatte bemerkt, dass die Amsel nie zum Schöpfen an den Brunnen ging, sondern sich ihr Wasser von anderen bringen ließ, also übernahm von jetzt an sie diese Pflicht. Häufig ging sie mit Timothy Eis vom Waldboden scharren, um Essbares für die Tiere zu sammeln. Hinterher lag sie bei ihm in seiner Hütte. Seine Unersättlichkeit begann ihr Probleme zu bereiten, doch sie konnte ihm nie genug danken, weil er geholfen hatte, ihren Herrn zu retten.
Er küsste sie. »Dein Herr bedeutet dir viel, was?«
»Alles«, sagte Magdalene.
»Hast du bei ihm auch gelegen?«
»Was geht’s dich an?«, fragte sie. »Nimmt es dir etwas weg?«
»Ich weiß nicht«, sagte Timothy. »Es schmerzt mich.«
Magdalene nickte. Ebenso erging es ihr, wenn sie an ihren Herrn Matthew und die Amsel dachte, doch aus Liebe musste sie sich fügen.
»Dein Herr muss ein guter Mensch sein«, sagte er.
»Weshalb meinst du das?«, platzte sie verblüfft heraus. Für sie war Herr Matthew zwar der beste Mensch auf der Welt, doch die meisten, die von ihm sprachen, sagten etwas anderes.
»Nun, er hat doch statt eines wohlgeborenen Knappen einen Verbrecher in seinen Dienst genommen, der sonst kaum Lohn und Brot gefunden hätte und sich nicht einmal auf Pferde versteht. Weshalb sollte ein großer Herr so etwas tun, wenn nicht aus Güte?«
»Von welchem Verbrecher redest du?«
»Na von wem wohl? Von dem Kerl, dem sie die Zunge herausgeschnitten haben – fürs Falschschwören oder was immer er getan hat.«
»Falsch schwören? Hugh? Was hätte der denn schwören sollen?«
»Was weiß ich?« Timothy zuckte mit den Schultern. »Aber der Henker schneidet einem fürs Falschschwören oder fürs Gotteslästern die Zunge aus dem Mund. Hast du das nie gesehen? Die Mönche sagen, es bekommt uns übel, bei derlei Gräueln zuzuschauen, und dennoch lässt es sich doch keiner entgehen, wenn es in Newport oder Yarmouth auf dem Markt geschieht.«
Magdalene wurde die Kehle eng. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, warum Hugh keine Zunge hatte – er hatte eben keine, so wie andere keine Haare hatten und wieder andere keinen Verstand. Dass ihn dieser Mangel zum Verbrecher stempelte, war kaum zu fassen. Wer falsch schwor oder Gott lästerte – konnte der nicht auch ein Totschläger sein? Gleich darauf schämte sie sich, weil sie Hugh einer so abscheulichen Tat verdächtigt hatte. Gewiss hatte Hugh ein lässliches Verbrechen begangen und es gleich darauf bereut. Timothy hatte jedenfalls recht: Indem Herr Matthew Hugh in den Dienst nahm, bewies er eine Güte, für die viele blind waren, die Magdalene aber in ihm spürte.
Die Weihnachtstage kamen. Magdalene hatte sie nie gefeiert, denn für Gilles, den Frauenwirt, hatten sie lediglich Verlust von Einkommen bedeutet. In Quarr aber war die Geburt des Herrn ein Grund zu höchster Freude. Etwas Schöneres als den Abend vor der Weihnacht hatte Magdalene nie erlebt: Das kleine Haus war mit Efeu und Stechpalmenzweigen geschmückt und wirkte festlich und heimelig zugleich. In die Hafergrütze, die die Amsel kochte, wurden Korinthen, gedörrte Kirschen und betörend duftende Gewürze gerührt, und obendrein buk sie eine kastenförmige Pastete, in die sie zermahlene Innereien vom Wild und weitere Trockenfrüchte und Gewürze füllte.
Die Pastete mit ihrer golden schimmernden Kruste war ein Sinnbild für die Krippe, in der das heilige Kind zur Welt gekommen war, erklärte ihr Timothy, und Ehrfurcht erfasste Magdalene, während ihr das Wasser im Mund zusammenlief.
Vor dem Essen aber stand ihr noch etwas
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