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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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eine Weile weiter, derweil sich auf ihren Schultern Schnee sammelte, den ihre Körperwärme nur langsam schmolz. Der Mönch schimpfte und flehte, die Amsel aber beharrte, sie wolle die Gründe kennen oder werde die Warnung in den Wind schlagen.
    Magdalene wandte sich ab und ging zum Haus zurück. Sie hatte genug gehört und würde fortan noch stärker auf der Hut sein.
    Im Januar begannen die Misteln zu blühen. Sie wucherten in dicken Büscheln auf den Obstbäumen des Friedhofs und saugten ihr Wasser aus deren Holz. Aus den glasigen Beeren fertigten die Laien Leim, den sie im Frühjahr auf Ruten schmieren würden, um Singvögel zu fangen.
    Als die Amsel Magdalene das erste Mal zum Mistelpflücken schickte, mochte sie nicht gehen, weil ihr wegen der Vögel in den Käfigen das Herz wehtat. Die Amsel aber erklärte ihr, dass die Menschen sich die bunten Finken kauften, damit deren Gesang an lichtlosen Wintertagen ihre Traurigkeit vertrieb. Das verstand Magdalene, die sich selbst nach Licht und Vogelzwitschern sehnte, und es gab noch einen anderen Grund, die Aufgabe schließlich zu übernehmen: Weder Bruder Timothy noch die Schweine würden sie dabei stören, sodass sie unbemerkt nach einer Pflanze für den eigenen Bedarf Ausschau halten konnte.
    Magdalene bewunderte, wie viel die Amsel in der Kräuterkunde wusste, doch das eine oder andere wusste auch sie. So besaß sie einen Tiegel mit einer Paste, die aus vielerlei Zutaten bereitet worden war: Ingwer, Pfeffer und Pfriemenkraut fanden sich darin, dazu Süßholzwurzel, Myrrhe, Wermutsud und die siebenmal verfluchte Petersilie. Die Paste hatte Gilles an seine Mädchen verteilt, und wenn der Tiegel leer war, würde Magdalene in Schwierigkeiten kommen. Vorsorglich hortete sie daher alles, was hineingehörte, stahl ein wenig Pfeffer und Ingwer aus dem Vorrat der Amsel, Wermutsud aus dem Krug für Sir Matthew und Pfriemenkraut von den Sträußen im Gebälk. Myrrhe würde ihr Timothy beschaffen, wenn sie ihm verriet, wozu die Paste diente; er tat des Öfteren Putzdienst in der Sakristei. Wo sich aber die Petersilie finden ließ, die verflucht war und siebenmal zur Hölle fahren musste, ehe sie aus dem Boden keimte, wusste Magdalene nicht. Vielleicht auf dem Friedhof? Während sie Misteln für den Vogelleim pflückte, würde sie unter dem Schnee danach Ausschau halten.
    Der Tag, an dem sie ging, war trübe. Dichte Nebel kürzten die Sichtweite, und der Himmel hing schwer über der schweigenden Erde. Seinem Graugelb war anzumerken, dass in der Wolkendecke mehr Schnee lauerte.
    Magdalene vermisste das Licht der Insel, das ihr so heimelig erschienen war. Einer der Laien hatte erzählt, ein Bruder des Abtes, der weitgereist war, habe die Insel um dieses Lichtes willen »mein kleines Sizilien« genannt. Magdalene kannte kein Sizilien, doch das Wort berührte eine Saite in ihr, und sie liebte den Klang.
    Von dem kleinen Sizilien und seinem Licht war an diesem Tag nichts zu finden. Von der Petersilie auch nicht. Wie sie aussah, wusste Magdalene von den älteren Huren, die ihren Pastentiegel selbst aufgefüllt hatten. Der Boden aber war so hart gefroren, dass er sich nur mit Mühe aufkratzen ließ, und darunter wuchs kaum ein Halm. Würde die Paste auch ohne Petersilie wirken? Obwohl der Himmel sich bedrohlich verdunkelte, beschloss Magdalene, sich noch ein Stück weit ins Gehölz hinter der Friedhofsmauer zu schlagen und dort nach dem Kraut zu scharren. Schließlich wusste sie nicht, wann sie noch einmal Gelegenheit haben würde, allein auf die Suche zu gehen.
    Auch das Gestöber in der Waldung blieb ohne Erfolg. Vielleicht gehörte Petersilie zu den Kräutern, die nur zur warmen Jahreszeit wuchsen – oder sie wuchs überhaupt nicht hier, sondern in exotischen Gefilden und wurde teuer auf dem Markt verkauft. Auf dieser Seite des Waldes war Magdalene bisher nie unterwegs gewesen, und allmählich beschlich sie ein Unwohlsein, weil sie tiefer und tiefer ins Dickicht geriet. Besser sie suchte den Rückweg, solange noch Reste von Licht durch die Kronen der Bäume sickerten.
    Im nächsten Augenblick begann es mit einer zornigen Macht zu schneien, die Magdalene von der Insel nicht kannte. Wind heulte im Geäst. Schon bald sah sie ihre Hand nicht mehr vor Augen. Nackte Angst ergriff von ihr Besitz und duldete keine Überlegung. Noch war der Sturm nicht so heftig wie die Stürme des Nordens, doch Magdalene wusste, dass in solchen Stürmen Menschen starben und dass ihr wenig Zeit blieb.

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