Kains Erben
tauchte einen Streifen Leinen in Wasser und rieb Magdalene die Stirne, weil sie sonst nichts für sie tun konnte. »Jetzt werde wieder gesund, ja? Alles andere wird sich schon finden.«
Magdalene versuchte zu nicken. »Aber du – bitte lass meinen armen Herrn Matthew nicht so furchtbar allein.«
Amicia stöhnte und überlegte, was sie ihr sagen könnte, da verdrehte Magdalene die Augen und war mit einem Schlag nicht mehr bei sich. Verzweifelt rief Amicia ihren Namen, rüttelte sie an den Schultern und spritzte ihr Wasser auf die Wangen, doch der Körper in ihren Händen blieb leblos wie der einer Puppe. Sie musste ihr Ohr dicht vor den Mund des Mädchens bringen, um die flache, stockende Bewegung wahrzunehmen, die von seinem Atem übrig war. Kopflos rannte Amicia zur Tür, riss sie auf und rief hinaus auf den Gang. »Timothy, Hugh! So helft mir doch! Magdalene stirbt!«
Sie schrie, bis sie heiser war, doch in dem großen Haus schien kein Mensch sie zu hören. In ihrer Not rannte sie die Stiege hinunter in den Schankraum, wo sie Hugh entdeckte. Sein Kopf lag in einer Alepfütze vor einem umgestürzten Krug. Den Versuch, ihn wachzurütteln, gab sie gleich wieder auf. Sie hatte keine Zeit zu vergeuden, sondern musste einen Menschen finden, der bei Sinnen war.
Durch strömenden Regen lief sie über den Hof. Der Wirt war nirgends zu sehen – zu allem Unglück war Markttag, und die Box des Karrenpferdes war ebenso leer wie die von Althaimenes. Was blieb ihr zu tun? Warum nur hatte sie ihr bisheriges Leben fern von der Welt verbracht und wusste jetzt nicht, wie man sich in solcher Not verhielt? Auf keinen Fall konnte sie hierbleiben und tatenlos abwarten, bis Magdalene starb! Sie lief aus dem Tor hinaus und den vom Regen verschlammten Weg hinunter. Allzu weit war es nicht bis zu den ersten Häusern der Stadt. Wenn sie dort jemanden antraf, konnte sie ihn bitten, ihr das Haus der Hebamme zu zeigen.
Um die Strecke abzukürzen, lief Amicia nicht weiter auf dem Pfad, sondern rannte über die weite Senke, die gewiss als Gemeindewiese genutzt wurde und das Gasthaus vom Stadtrand trennte.
Sie hätte sich fragen sollen, warum niemand sein Vieh auf die Gemeindewiese trieb. Anfangs nahm sie noch an, die Erde, die bei jedem Schritt patschend und schmatzend an ihren Füßen zog, sei schlicht vom Regen durchweicht. Als sie ihren Irrtum bemerkte, war sie längst zu weit vom Gasthaus entfernt, um zu schreien. Beim nächsten Schritt trat ihr Fuß nicht mehr auf halbwegs festen Boden, sondern in ein Wasserloch. Mit einem Mal schienen sich Hände um ihre Fessel zu schlingen und ihr Bein in die Tiefe zu zerren. Sie verlor den Halt und stürzte in den Schlamm. Ein Brachvogel flatterte erschrocken auf. Was sie für eine Wiese gehalten hatte, war ein Streifen Sumpfland. Kein rettender Ausweg, sondern eine tückische Falle.
Dass Sümpfe Menschen, ja sogar ausgewachsene Rinder auf Nimmerwiedersehen verschluckten, wusste Amicia aus Quarr. Die leuchtenden Blumen auf den Grasinseln verbargen die tödliche Gefahr. Sie musste um jeden Preis die Ruhe bewahren. Zwar spürte sie die enorme Kraft, mit der der Sumpf an ihren Beinen saugte, doch allzu stark vernässt konnte das Land nicht sein; sonst wäre sie nicht unversehrt bis hierher gekommen. Wenn es ihr gelang, sich aus dem Loch zu kämpfen, könnte sie sich von einem trockenen Fleck zum nächsten hangeln, bis sie auf der anderen Seite in Sicherheit war. Der Regen, der ihr ins Gesicht trieb, und der Schlamm, der ihr das noch immer ungewohnte Kleid durchnässte, machten es nicht leichter, doch sie musste es versuchen.
Die Angst verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Alle Muskeln, alle Sehnen spannten sich so, dass sie glaubte, die Adern an ihren Schläfen müssten bersten. Ihre Hände krallten sich um Grasbüschel, und ihre Arme zogen, zerrten, hievten, bis ihre verfangenen Füße sich mit einem schwappenden Laut aus der Umklammerung des Sumpflochs rissen. Das Gebet, das sie dabei sprach, hatte keine Worte. Auf allen vieren kroch sie auf den rettenden Streifen Gras, blieb dort kauern und weinte vor Erschöpfung.
»Nicht weiter! Beweg dich nicht! Ich komme dir zu Hilfe.«
Durch die Fäden des Regens starrte sie ungläubig auf den Mann, der ihr vom anderen Ende der Wiese her mit beiden Armen winkte. Amicia hätte weinen, lachen, schreien wollen, alles zugleich und alles durcheinander. Ihr Gebet war erhört worden. Gott sandte ihr einen Menschen zu Hilfe, und wenn sie erst in Sicherheit war, würde
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