Kains Erben
schüttelte stumm den Kopf und ließ sich gegen ihn fallen. Das Wolltuch, das sie um den Kopf trug, rutschte ihr in den Nacken und enthüllte die Fülle ihres Haars.
Salomo muss Deborah gekannt haben, als er sein Hohelied sang, dachte Vyves. Dein Kopf ist wie der Karmelberg, dein Haar wie Purpur, in deinen Locken liegt ein König gefangen.
»Es geht nicht um Esther«, sagte sie matt. »Und doch ist es Esther, die daran zerbricht, die weder essen noch trinken kann und gelbe Galle bricht. Ach Vyves, warum zerstören Männer so wundervolle Frauen? Um meinen Bruder geht es – schon wieder um Gideon!«
Er drückte sie an sich. Presste seine Hände auf ihre Schulterblätter, als könnte er ihr dadurch Kraft verleihen. Auf ihr lastete zu viel. Sie war ein junges Mädchen, eine Schönheit, sie hätte verwöhnt und mit Liebe überschüttet werden sollen. »Sag mir, was los ist«, sagte er. »Was immer es ist, wir bringen es wieder ins Lot.«
»Er ist fort«, murmelte sie an seiner Brust. »Und das Geld für den Milchhändler auch.«
Er streichelte sie, wie er am Morgen seine Mutter gestreichelt hatte. »Er hat es nicht leicht, Deborah.«
»Und Esther? Hat es die arme Esther etwa leicht? Warum dürfen Männer schwach sein, wenn Frauen von ihrer Stärke abhängig sind?«
Seine Hand fuhr über ihr Haar. »Ich gehe ihn holen, ja? Glaubst du, du könntest für eine Weile auf das Geschäft achten?«
Am Hals spürte er ihr Nicken. »Natürlich.«
»Meine Mutter kann bei Esther bleiben. Und ich beeile mich.«
Tapfer nickte sie wieder.
Er war schon an der Tür, als sie ihn zurückrief. »Vyves? Hab Dank.«
»Wofür?«
»Dafür, dass du anders bist.«
Vyves ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Zielstrebig eilte er durch die Gassen des jüdischen Viertels, das noch immer von einstiger Blüte kündete. William, der normannische Eroberer, hatte die Juden mit allerlei Anreizen auf sein neu gewonnenes Inselreich gelockt, weil ihm ihr Geld für seinen Traum von Größe zupasskam. Im Herzen von London, unweit der Kathedrale St. Paul, gewährte er ihnen das Recht zu siedeln. Eine Zeit lang waren der Reichtum der Juden und der Reichtum Englands Hand in Hand gegangen, und noch immer bewahrte die Pracht so mancher Fassade bröckelnde Spuren davon.
Vyves wusste, wohin er seine Schritte zu lenken hatte, auch wenn er wünschte, er hätte es nicht so genau gewusst. Er rannte bis ans Ende der Colechurch Lane und am Haus des koscheren Schlachters vorbei. Erst als das jüdische Viertel hinter ihm lag, verlangsamte er seinen Schritt.
In den Gassen, die sich tief in den Schatten der Kathedrale duckten, gab es zahllose Spelunken. Bei den meisten führte eine Reihe von Stufen in ein Gewölbe hinab, und Vyves schritt eine nach der anderen ab. In manchen saßen lediglich Männer beim Ale, in anderen boten Frauenwirte die Dienste von Hübschlerinnen feil. Vyves wollte nicht wissen, was er tun würde, würde er Gideon je in einer Kneipe der zweiten Gattung finden. Adonai sei Dank blieb es ihm auch diesmal erspart. Der Freund kauerte am Ecktisch eines leeren Schankraums über einem halb geleerten Krug Wein. Wie Vyves erwartet hatte, trug Gideon weder Tabula noch Judenhut und hatte sich das Haar, das ihm von den Schläfen wuchs, hinter die Ohren gestrichen.
Mit einem Satz war er bei ihm, packte ihn beim Arm und riss ihn in die Höhe. »Hältst du so dein Versprechen? Sorgst du so für deine kranke Frau?« Vielleicht hätte Vyves den anderen schlagen sollen, doch seine Wut war nur gespielt. Gideon schlackerte auch so wie ein leerer Sack in seinen Händen. Vyves verstand ihn. Er war ein stolzer, selbstbewusster Mann gewesen, hatte ein Haus und ein Geschäft besessen und als Haupt einer Familie vorgestanden. Jetzt stand er mit leeren Händen in der Fremde und war auf die Barmherzigkeit anderer angewiesen. Das Schlimmste aber war: Er hatte seine Familie nicht beschützt. Auf dem Weg von Windsor hatte ein Sturm sie überrascht, und ein vom Stamm gerissener Ast hatte Esther niedergeworfen. Sie selbst war glimpflich davongekommen, doch der Sturz hatte die Geburt ausgelöst. Vyves selbst hatte den neugeborenen Jungen in den Händen gehalten, der schön wie ein Bildnis, winzig klein und tot gewesen war. Er hatte gehört, wie Gideon durch die Nacht geheult hatte, und er war sicher: Kein Wolf heulte wilder um sein Kind.
Vyves hätte Gideon schlagen sollen, um ihm im Namen der Familie eine Strafe zu erteilen, aber er vermochte es nicht. Der Freund
Weitere Kostenlose Bücher