Kains Erben
klar, was geschehen war.
Mit einem Ruck sprang sie auf und drehte sich um. Weit hinten erkannte sie das Pferd. Althaimenes. Auch der namenlose Hund war dort und sprang wie besessen hin und her. Einem Donnergrollen gleich drang sein Gebell zu ihr herüber. Warum um alles in der Welt war das Tier seinem Herrn nicht gefolgt?
Von den zwei Männern war nichts zu erkennen als ein Knäuel in sich verkeilter Leiber, halb verschluckt vom Sumpf. Mindestens einer von ihnen würde sterben. Amicia presste eine Hand auf ihr Herz. Alles in ihr wollte zurück in den Sumpf und dem Mann zu Hilfe eilen, der ihr zu Hilfe geeilt war. Wollte verhindern, dass Matthew derjenige war, der starb. Der erbärmlich schlecht erzogene, überhebliche Matthew, der Mädchen missbrauchte und Hungernde um ihr Geld brachte. Matthew, der Schweiger, der Menschen hasste und reißende Hunde liebte, dessen Augen ihr oft Angst machten und dessen Stimme wie eine Klinge schnitt. Matthew mit seinem lächerlichen Stolz, seinen schauderhaften Manieren, seiner Menschenverachtung. Matthew mit seiner Laute, seinem Lied, das zum Himmel sprach, und seinem Lächeln, das sich fürchtete. Matthew, der dafür sterben würde, dass er sie gerettet hatte.
Sie wollte zu ihm. Wollte den anderen von ihm hinunterziehen oder wenigstens ablenken, doch sie scheiterte schon am ersten Schritt. Ihr Körper war ausgelaugt, hatte nichts mehr zu geben. Sobald sie versuchte, sich aufzurappeln, brach sie wieder zusammen. Sie konnte nichts tun, als liegenzubleiben und zuzusehen, wie der andere Matthew den Kopf in den Sumpf drückte und ihn erstickte. Er war gerade erst von schwersten Verletzungen genesen und würde dem Sommersprossigen nicht standhalten können. Laut weinte Amicia auf. Gleich darauf sah sie, wie das Knäuel aus Leibern sich teilte, wie einer der Männer hintüberfiel und der andere mit schleppenden Schritten auf sie zuwatete. Trotz Schlamm und Regen und Tränenschleier erkannte sie sofort, dass es Matthew war.
Sie breitete die Arme aus, und als er zu ihr kam, ließ sie sich gegen ihn fallen. So fest sie konnte, presste sie ihren Körper an seinen, als erlaube ihr die Erschöpfung nicht, sich auf eigenen Beinen aufrecht zu halten. Vom Weinen bekam sie kaum noch Luft.
Irgendwann nahm er ihr Gesicht in die Hände und schob es sachte eine Handbreit von sich weg. »Amicia«, sagte er und schmiegte die Hände wie um eine Kostbarkeit um ihre schlammverschmierten Wangen. »Amsel.«
Sie sah die Narbe auf seiner Braue, die er von dem Überfall im Wald zurückbehalten hatte, und das Blut einer frischen Verletzung auf dem Wangenknochen. Wie von selbst hob sich ihre Hand und wischte es weg. Als neues Blut aus dem Schnitt quoll, tat sie es noch einmal. Und als keines mehr kam, streichelte sie ihn weiter.
Flüchtig schloss er die Augen. Seine Lider wölbten sich wie Muscheln, und seine Wimpern waren viel dunkler als sein Haar. Sie knieten in Regen und Schlamm, durchnässt und verwundet, doch sein Gesicht sah einen Augenblick lang aus, als durchlebe es höchsten Genuss. Dann öffnete er die Lider, und in den furchterregenden Augen stand ein Lächeln. »Ich muss dich ins Gasthaus bringen«, flüsterte er. »Und dann muss ich die Tiere holen. Althaimenes fände den Weg auch allein, aber ich habe Nameless angekettet, damit er mir nicht folgt.«
»Seid Ihr verrückt? Er hätte Euch das Leben retten können!«
Das Lächeln erlosch. Seine Lippen wurden schmal. Er sagte nichts.
»Ich wollte Euch nicht wehtun«, entfuhr es Amicia.
Mit leisem Stöhnen schüttelte er den Kopf. »Nein, du hast recht. Es war idiotisch, Angst um den Hund zu haben. Ich würde ihn gern bald holen.«
Bei der Vorstellung, er werde sie loslassen, zog sich ihr Inneres zusammen. Erst jetzt bemerkte sie, wie sehr sie fror und wie sehr sie sich wünschte, in seinen Armen zu bleiben. Die Kraft, mit ihm zu gehen, brachte sie jedoch nicht auf. »Beeilt Euch«, sagte sie. »Ich warte hier.«
»Das kommt nicht infrage. Ich lasse dich nicht hier draußen allein.«
»Aber der Mann ist doch tot.«
Er wandte den Kopf zu dem Sumpfland, das im Zwielicht der Dämmerung lag. »Er mag tot sein oder auch nicht«, murmelte er ohne Ausdruck. »Außerdem war er vermutlich nicht allein. Ich bringe dich ins Gasthaus und sage Hugh und Timothy, sie sollen dich nicht aus den Augen lassen.«
Bevor Amicia noch einmal protestieren konnte, fiel ihr ein, weshalb all dies überhaupt geschehen war. »Magdalene!«, rief sie. »Magdalene ist
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