Kains Erben
ohnmächtig geworden, und ich wollte Hilfe holen, aber Hugh ist betrunken, und sonst ist niemand da. Oh mein Gott, Ihr müsst Magdalene helfen, oder sie stirbt!«
Er stand sofort auf. »Kannst du gehen?«, fragte er.
»Ich glaub nicht«, erwiderte Amicia ehrlich.
Wortlos bückte er sich und hob sie auf seine Arme. Amicia verbarg ihr Gesicht an seinem Hals, und er trug sie zurück zum Haus, zu Wärme und Sicherheit.
Die folgenden Stunden erlebte Amicia nur halb bewusst. Von irgendwoher hatte Matthew die Wirtin aufgetrieben, die ihr einen Bottich mit warmem Wasser füllte und ein trockenes Hemd brachte. Als sie sich nach oben in die Kammer mit dem großen Bett schleppte, lag Magdalene ruhig atmend im Schlaf, und Timothy saß bei ihr. Seinen Erklärungen konnte sie kaum folgen, doch es erschien ihr auch nichts davon wichtig. Nur das eine: Magdalene hatte sich von selbst erholt, ihre Lebenskraft hatte die tödliche Bedrohung besiegt.
»Wo ist Herr Matthew?«, fragte Amicia und kam sich vor wie das Mädchen.
Timothy zuckte mit den Schultern. »Sein Pferd holen, den biestigen Hund holen, zu aller Sicherheit noch die Hebamme holen. Er hat dir Käse, Brot und warmen Wein hinstellen lassen, Amselchen. Aber ich fürchte, der Wein ist inzwischen kalt.«
Es machte ihr nichts aus. Sie kroch unter sämtliche Decken, trank einen halben Becher des schweren, unverdünnten Rotweins und wäre beinahe mit dem Gefäß in den Händen eingeschlafen. Im Schlaf wirbelten die Bilder von Blut und Gewalt in einem wirren Reigen durcheinander. Gesichter mit Sommersprossen tanzten um funkenspeiende Drachen, erhobene Schwertklingen um bedrohlich ausgestreckte Hände, ein Rinnsal Blut lief über Pflastersteine, und eine ausdruckslose Stimme zählte. Sieben. Acht. Neun. Zehn.
Ein Licht, das ihr ins Gesicht schien, erlöste sie aus der Hölle. Noch ehe sie die Augen aufschlug, presste sie beide Hände auf ihr jagendes Herz. Vor ihr stand Matthew und hielt eine Stalllaterne in der Linken. »Verzeih«, flüsterte er. »Ich wollte nur nach dir sehen, nicht dich wecken.« Er wandte sich zum Gehen.
Mit einem Schlag war Amicia hellwach. »Bleibt«, sagte sie. Es gab nichts, das sie sonst hätte sagen können.
Ihr Herz schlug noch schneller, als er sich umdrehte und sie den Unglauben auf seinem Gesicht sah, doch diesmal machte das rasende Herz ihr keine Angst. Sie hätte lachen wollen, laut und frei herauslachen, doch sie befürchtete, die anderen zu wecken. Er trug seinen schönen Tabard, der offenbar gewaschen worden war, über einem schwarzen Wams mit einem Muster aus Goldfäden. Sein Haar war ordentlich zurückgekämmt, und zum ersten Mal sah sie ihn so, wie Magdalene ihn sah: Er war schön, es war eine Freude, ihn anzusehen. Und er war hilflos, wusste nicht, was er zu ihr sagen, geschweige denn, was er tun sollte. Sie setzte sich auf und streckte die Hand aus, weil der Wunsch übermächtig war, ihn zu berühren.
Scheu trat er einen halben Schritt auf sie zu. Dann blieb er noch einmal stehen und sah ihr fragend, geradezu furchtsam ins Gesicht. Kaum merklich nickte sie.
Keinen Herzschlag später war er in ihren Armen.
Sie hielten einander, wie sie sich draußen im Regen gehalten hatten, und es tat genauso gut. Es war, wie vor dem Ertrinken gerettet zu werden, vor dem Alleinsein, vor den Albträumen. Jetzt aber nahm sie noch etwas anderes wahr: Sie roch den Duft seiner Haut, der ihr so gefiel, dass sie ihn mit dem Mund probieren wollte, mit Lippen und Zunge, dort, wo der Stoff sich von Hals und Schulter streifen ließ. Sie spürte den Schlag seines Herzens, seinen heftigen Atem, sein Haar, das ihre Wange kitzelte, die Muskeln seines Rückens, die sich unter ihren Fingern spannten, die Wärme des Blutes, den Flaum auf seinen Unterarmen, das leise Stöhnen, das erlöst und gequält zugleich klang, und das Zittern, das über seine Schultern lief.
»Friert Ihr?«, fragte sie an seinem Ohr.
»Nein«, sagte er. »Amicia?«
»Was ist?«
»Kannst du bitte nicht zu mir sprechen, als sei ich dein Herr?«
Die Traurigkeit in seiner Stimme riss in ihr Staudämme ein und löste Wogen von Zärtlichkeit aus. Einen Mann von Stand mit du anzusprechen erschien vermessen, doch zugleich schien es das einzig Richtige zu sein. Wir haben etwas gemeinsam, dachte sie. Er und ich, wir sind so einsam, dass es uns die Luft abschnürt, und wir halten es beide nicht mehr aus.
»Ja, das kann ich«, flüsterte sie und liebkoste mit den Lippen seine Ohrmuschel. »Das ist
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