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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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er auch Magdalene helfen. Den größten Teil seiner Worte verschluckte der Regen, doch sie hörte, wie er »Keine Angst!« rief und »Ich bin gleich bei dir«.
    Langsam, in Sprüngen von Insel zu Insel setzend, kam er auf sie zu. Es dauerte lange, bis sie Einzelheiten ausmachen konnte. Er trug einen ledernen Brustschutz über einem Gambeson, doch keine Kettenrüstung, die ihm den Weg durch den Sumpf erschwert hätte. Sein Kopf war unbedeckt, an dem durchnässten Haar riss der Wind. »Nur keine Sorge, wir haben es so gut wie geschafft.«
    So nah war er ihr, dass sie glaubte, seinen Atem und die wohlige Wärme eines anderen Körpers zu spüren. Ihr vom Himmel gesandter Retter war groß und kraftvoll gebaut, er war dem Sumpf gewachsen. Noch einen Sprung vollführte er, dann streckte er die Hand aus und lächelte ihr durch den Regen entgegen. »Na komm. Das süße Schäfchen werden wir schon ins Trockene bringen.«
    Amicia schrie auf.
    Es war wie vor dem Brunnen im Innenhof der Abtei von Quarr. Es war wie über dem Bild vom Mord an Thomas à Becket. Es war wie so vieles, das den rasenden Schwindel in ihr auslöste, und es war viel schlimmer. Vor ihr stand ein lächelnder, dem Ritterstand entstammender Mann, der ihr das Leben retten wollte, und sie sah nichts als den Tod. Sie war nicht fähig, ihm die Hand zu reichen. Ihr hämmerndes Herz und ihr Hirn gaben ihr nur einen einzigen Befehl: Sie musste fliehen.
    Es zu tun war Wahnsinn. Aber Amicia tat es. Gegen den Schwindel, der sie niederwerfen wollte, gegen die Schwärze, die vor ihren Augen aufzog, rappelte sie sich auf die Füße, drehte sich um und suchte nach der nächsten Scholle, auf die sie vor seinen ausgestreckten Händen flüchten konnte. Sie sprang in dem Augenblick ab, in dem auch der Mann sprang, um zu ihr zu gelangen.
    »Bist du verrückt? Ich will dir helfen!« Sein Gesicht war keine Handbreit vor ihrem, nicht mehr jung, aber bedeckt von Sommersprossen.
    Ehe er sie packen konnte, gelang ihr der Sprung. Sie setzte schwankend auf und brach um ein Haar in die Knie, doch ihre Todesangst zwang sie von Neuem in die Höhe. Weiter, weiter. Das Rauschen des Regens und die Rufe des Mannes verschwammen in ihren Ohren. Ihr geschundener Körper gab sein Letztes, und dennoch war sie verloren. Der Mann war schneller und stärker als sie, er würde sie fangen und zu Boden werfen. Mit seiner Waffe würde er ihr den Kopf zerschmettern, dass ihr Blut in einem dünnen Strom in den Schlamm rann. An ihrem Nacken hörte sie sein Keuchen, das in ihren Ohren wie Hohn klang.
    Als er sie packte, drehte sie sich um und sah noch einmal in das Gesicht des Grauens. Sommersprossen. Ein kurzer Bart, der die Lippen bedeckte. Er schrie, und sie schrie. Im nächsten Atemzug hörte sie einen, der lauter schrie als sie beide zusammen. Sie riss den Kopf hoch und sah einen Mann, der von der anderen Seite auf sie zujagte. Sie erkannte ihn auf der Stelle. Es war Matthew de Camoys.
    Er war unglaublich schnell. Über Gräben und Priele setzte er in mächtigen Sprüngen von Scholle zu Scholle. Schwarzes Sumpfwasser spritzte auf, und der Vorhang des Regens sah aus, als teile er sich.
    Der Sommersprossige schlug Amicia die Faust an die Schläfe. »Los, weiter!« Er stieß sie brutal in den Rücken, sie tappte in die Nässe und stürzte. »Zur Hölle«, fluchte er und riss sie wieder hoch, dass sie fürchtete, er werde ihr das Gelenk auskugeln. Als sie vor Schmerz aufschrie, schlug er sie in blinder Wut erneut.
    Matthew brüllte ihren Namen. Mit Faustschlägen, die ihr fast die Sinne raubten, trieb ihr Peiniger sie auf die nächste Scholle. Noch einmal holte er aus, dann schwappte eine Woge Schlamm hoch, und im Aufsetzen schleuderte Matthew ihn zu Boden. »Lauf!«, brüllte er Amicia zu, sein Gesicht in höchster Anstrengung verzerrt. »Lauf, lauf, lauf!«
    Amicia warf sich zur Seite, erkannte, dass sie frei war, und floh. Stolperte, stürzte, robbte blindlings vorwärts, kroch und zog sich, kämpfte sich wieder auf die Füße, stürzte von Neuem, rollte und schleppte sich und erreichte schließlich das rettende Ufer. Aus ihren Haaren troff Schlamm in ihr Gesicht. Arme und Knie gaben nach, sie brach zusammen, keuchte und rang nach Luft.
    Ihre Lungen brannten, und in ihrem Mund klebte der Geschmack von Erde. In ihrem Kopf wurden Tropfen von Schmerz zu Strömen und rannen ineinander. Erst als ihr Atem wieder stetig genug ging, um Blut und Herz zu versorgen, fügten die Bilder sich zusammen, und ihr wurde

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