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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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zog ihn die Colechurch Lane hinunter. Was die Menge ihnen hinterherrief, all die geifernden, hasserfüllten Worte, hörten sie nicht mehr.
    Wie gerne wäre er mit ihr nach Hause gegangen, in das sichere Haus der Crespins mit seinen festen Mauern und den drei Riegeln vor der Tür. »Wenn du jetzt glaubst, es drohe dir ein Unheil, ist es keine vage Ahnung, Deborah. Du weißt, was anderswo geschehen ist. Lass uns gehen und uns verbarrikadieren, bis ausgestanden ist, was sich hier zusammenbraut.«
    Deborah aber wollte nichts davon hören, sondern an ihre Arbeit gehen, als sei dies ein gewöhnlicher Tag. Der alte Seifensieder hatte den Aufruhr vermutlich gehört. Er wartete bereits vor seinem Haus und winkte ihr entgegen. »Was anderswo geschehen ist, gilt hier nicht«, sagte sie.
    Vyves bewunderte sie. Sie hatte ihren Schleier verloren. Ihr Kleid war am Hals zerfetzt, das Gesicht verweint und verschmutzt, und das Haar hing in Strähnen, und doch ging sie schon wieder wie eine Fürstentochter.
    »Dies ist London«, sprach sie weiter. »Und wir sind noch immer die Juden des Königs, die der Eroberer William in seine Stadt einlud. Warum sonst hätte der Mann uns gehen lassen?«
    »Weil er als Mensch unter Menschen handeln wollte«, erwiderte Vyves. »Wenn du das auch für alle anderen annimmst, bist du töricht – mindestens einer nämlich hat dieses Kind auf völlig unmenschliche Weise ums Leben gebracht und in eine Straße unseres Viertels geworfen, damit der Verdacht auf uns fällt. Und wenn du mich fragst, hat das kein Einzelner getan, sondern eine Rotte. Ein Haufen von denen, die sich riesengroß und unbesiegbar fühlen, wenn sie nur dicht genug zusammenstehen.«
    Deborahs Miene veränderte sich. »Ich kenne dich so nicht.«
    »Wie kennst du mich nicht?«
    »Bitter und menschenfeindlich. Ich habe Gideon so sprechen hören, aber dich noch nie.«
    »Vielleicht liegt es daran, dass ich zum ersten Mal auf dem Weg durch meine Stadt ein gekreuzigtes Kind gefunden habe«, sagte er und erschrak über den ätzenden Ton seiner Stimme.
    »Ja, vielleicht«, erwiderte sie. »Aber damit hilfst du weder dem toten Kind noch dir selbst. Ich gehe zur Arbeit, Vyves. Josua braucht mich. Und ihr Männer geht heute Abend in die Synagoge, während wir den Tisch für die Sabbatfeier decken.«
    Den ganzen Tag über fand Vyves keine Ruhe. Das Geschäft blieb still wie eine Totenkammer – kein Kunde kam, um Ware abzuholen, kein Lieferjunge brachte bestellte Kurzwaren. Sein Zeitgefühl, das für gewöhnlich verlässlich war, spielte ihm heute einen Streich. Sooft er durch die Seitentür hinaus in den Garten trat, weil er sicher war, es müsse Zeit sein, Deborah abzuholen, hatte sich der Schatten auf der Sonnenuhr kaum weiterbewegt. Es war ein zermürbendes, elendes Warten. Gerade hatte er beschlossen, hinüberzugehen, um nach ihr zu sehen, als die Tür so heftig aufflog, dass ein Ballen Wolltuch aus dem Regal an der Wand geschleudert wurde.
    »Herr Vyves, Herr Vyves!«, rief eine dünne Stimme. »Drüben beim Seifensieder brennt’s!« Die atemlose Gestalt in der Tür gehörte Ben, dem verkrüppelten Laufjungen, der für mehrere seiner Kunden Dienst tat. Er hatte Vyves oft mit Deborah zusammen nach Hause gehen sehen und hinter ihrem Rücken Faxen gemacht, wie Kinder es taten, wenn sie ein Liebespaar necken wollten.
    Vyves dachte nicht einmal daran, das Geschäft zu verriegeln oder Gideon zu sagen, er solle ein Auge darauf haben, sondern rannte los. Er hatte es gewusst – all die endlos versickernden Stunden über! Und er verfluchte sich, weil er seinem Gefühl nicht gefolgt war und Deborah nicht mitgenommen hatte. Wenn sie lebt, schwor er im Laufen, Adonai, wenn du ihr Leben erhältst, dann nehme ich sie zur Frau und will glücklich sein mit dem Los, das mir beschieden ist.
    Er rannte, dass ihn die Lungen schmerzten. Lange bevor er in die Colechurch Lane einbog, trieben ihm Fetzen von Ruß und Schwaden von schwärzlichem Rauch entgegen. Er glaubte, den abscheulichen Geruch wahrzunehmen, der entstand, wenn Fett verbrannte, das unter der Haut saß, und er hätte schreien wollen, sinnlos und aus tiefster Kehle schreien. Allerdings hätte er dazu nicht genug Atem gehabt, der beißende Rauch zwang ihn stattdessen zu husten und verschleierte ihm die Sicht.
    Das Licht sah er dennoch. In den Himmel, der immer noch trübe war, obwohl kein rettender Regen mehr fiel, schnitt blendend die Lohe und färbte das Schwarzgrau um sich rot.
    Vyves versuchte,

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