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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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zur Seite zu sehen, um nicht das Augenlicht zu verlieren. Im Laufen starrte er auf die steinernen Häuser zur Linken, vor denen Leute standen und fassungslos ihre Kinder an sich pressten. So helft doch! , wollte Vyves ihnen zubrüllen, doch seine Stimme war längst erstickt. So helft doch, füllt alle Gefäße mit Wasser, rennt zum Brunnen, in dem kein totes Kind begraben liegt, und versucht, die Mörderglut zu löschen! Die Menschen aber standen und glotzten, als seien sie zu Salzsäulen erstarrt.
    Sobald er wieder nach vorn blickte, sah er sie. Deborah. Sie stob in dem Augenblick aus dem Haus, als der brennende Türstock über ihr zusammenbrach. In seinen Ohren gellte ihr Schrei. Dann erfasste sie das Feuer. Im Nu brannten ihr Haar und die Kleider, die hinter ihr flatterten, lichterloh.
    »Hierher!«, brüllte Vyves, sprang ihr entgegen und riss sich in derselben Bewegung den Kittel vom Leib. Er stieß Deborah nieder und warf den Stoff über sie, presste, trampelte und erstickte die Flammen.
    Keuchend und einer auf dem anderen kamen sie zur Besinnung. Warum war Deborah noch im Haus gewesen? Hatte sie versucht, die Übrigen zu retten, statt so schnell wie möglich zu fliehen? »Ganz ruhig«, krächzte Vyves und sah mit wunden, tränenden Augen in ihr Gesicht. Erleichterung machte sich in ihm breit, als er festzustellen glaubte, dass sie unversehrt war. Nur ihre Locken waren zu schwarzem Gekräusel verschmort. »Jetzt ist alles gut, mein Liebes. Sobald du aufstehen kannst, bringe ich dich nach Hause.«
    Deborah bog wie im Schmerz Kopf und Oberkörper nach hinten und stieß dreimal hintereinander dasselbe Wort aus: »Rebecca, Rebecca, Rebecca!« Bebend wies sie auf das lodernde Haus.
    Vyves richtete sich halb auf. Eine Schar von Enkelinnen und Nachbarn versuchte, den alten Josua vom Haus wegzuzwingen, indem sie ihn rissen, zogen und schleiften. Seine Stimme war so grauenhaft verzerrt, dass Vyves keine Silbe ausmachen konnte, aber er war sicher, dass er dasselbe Wort schrie wie Deborah. »Rebecca ist da drinnen?«, fragte er.
    Deborah nickte.
    Vyves überlegte keinen Wimpernschlag lang. »Du bleibst hier!«, rief er ihr zu und war schon aufgesprungen. »Versprich mir das! Du rührst dich nicht weg.«
    Warum er es tat, warum er wie ein vom Wahnsinn gepacktes Pferd in die Flammen hineinlief, statt davor zu fliehen, hätte er nicht zu erklären vermocht. Er war kein Held. Der Schmerz, der sich von allen Seiten in sein Fleisch fraß, während er sich dem Feuer entgegenkämpfte, war unerträglich; er schien ihm in den Schädel zu schreien: Dreh um! Mach kehrt und flüchte, so weit, wie du kannst. Er kannte das Mädchen kaum, hatte es nur ein paarmal gesehen, wenn er Deborah abholte, ein kleines Ding mit geflochtenen Zöpfen, das beim Lächeln die Zahnlücken entblößte. Er tat es nicht um des Mädchens willen, auch nicht für den Alten oder für Deborah, sondern für sich selbst. Noch einmal entmachtet zuzusehen, wie ein Mädchen ums Leben gebracht wurde, hätte er nicht ausgehalten.
    Vyves hatte keine Chance, nicht die kleinste, aber er hatte Glück. Auf den Balken des Türrahmens, der heruntergekracht war, musste ein Stück Wand gestürzt sein und einen Teil der Flammen erstickt haben. Zwischen zwei Mauern aus Feuer war so eine schmale Schneise entstanden, in die er blind hineinrannte. Er konnte das Mädchen nicht rufen, aber er trampelte im Laufen, so laut er konnte, auf die Dielen.
    Unaufhörlich wiederholte eine Stimme, die unmöglich zu ihm gehören konnte, in ihm ein Gebet: Adonai, lass mich diesmal nicht verlieren, lass mich nicht noch einmal schuld sein! Ich habe in einem Brunnenhof ein verbotenes Spiel gespielt, ich wollte etwas besitzen, das mir nicht zustand, und ein Mädchen ist daran gestorben. Adonai, lass mich nicht heute wieder das Falsche getan haben, lass nicht heute wieder ein Mädchen um meinetwillen sterben! Er hatte Deborahs Rat mit dem Brunnen nicht befolgt, weil er der Erinnerung erlaubt hatte, ihn zu übermannen. Es durfte nicht sein, dass die kleine Rebecca dafür mit ihrem Leben bezahlte!
    Es war unmöglich, es zu schaffen, und dann war es so einfach, dass er hätte lachen wollen, hätte er den Atem dazu erübrigen können. Die Kleine kam ihm entgegen, auf allen vieren kroch sie über den Boden, wo der giftige Rauch nicht so dicht war. Sie musste ihn gehört haben, obwohl das Haus vom Krachen der Balken dröhnte. Im Gang brach sie entkräftet zusammen. Die kurze Distanz zu überwinden, jetzt, wo

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