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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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»In London ist es verboten.«
    »Warum denn?«, wunderte sich Timothy, und Matthew erklärte ihm, dass die Fangkörbe in London einem Schiff zum Verhängnis werden konnten. Zudem habe die Stadtverwaltung ein Auge auf den Fischbestand der Themse.
    »Es ist ohnehin widerlich, dort zu fischen«, sagte er. »Die Leute schmeißen ihren Dreck in den Fluss, bis die Jauche zum Himmel stinkt. Würde mir jemand einen Londoner Aal vorsetzen, könnte ich genauso gut aus meinem eigenen Nachttopf essen.«
    Magdalene und Timothy lachten, und Hugh stieß seine keckernden Laute aus, aber Amicia hörte nur das Wort London und fühlte ihr Herz sinken. Waren sie also tatsächlich in der Nähe der Stadt? Was würde sein, wenn sie sie erreichten?
    In der Nacht, die sie in einem Gasthaus am nördlichen Flussufer verbrachten, ging sie zu Matthew in den Stall, obwohl er sie nicht darum gebeten hatte. Beim Eintreten hörte sie ihn Laute spielen und blieb stehen, um ihn nicht zu stören. Kurz darauf hob er an zu singen, und Amicia stockte der Atem. Sie hatte Matthew niemals beten hören, aber das Lied, das er sang, stieg geradewegs in den Himmel. Es war die innigste Lobpreisung und die innigste Bitte um Hilfe zugleich, und die Stimme dafür hatte ihm der Himmel geschenkt. Sie war strahlend, voll Kraft und hielt nichts zurück. Wie konnte ein Mensch so singen und vermutlich nicht einmal ahnen, was für eine Gabe er besaß? Hätte sie es ihm gesagt, der Zauber wäre zerbrochen, dessen war sie sicher. Ohnehin bekam sie den Mund erst auf, nachdem der letzte Ton des Liedes verklungen war. Sie hatte die Sprache, die dem Lateinischen verwandt klang, nicht verstanden, doch die Musik hatte keine Sprache nötig.
    Als sie seinen Namen rief, stieß er die Laute mit unziemlicher Wucht von sich. Amicia war es, die sie aufhob und beiseiteschob, ehe sie ihn umarmte. Das Lied erwähnte sie nicht, doch seine Innigkeit – das Preisen wie das Flehen – blieben ihr im Ohr.
    Matthew wirkte abwesend, schien nicht mehr mit Haut und Haar bei ihr zu sein wie in den Wochen zuvor. Als sie ihn fragte, bestätigte er ihre Furcht: »Ja, ich denke, wir werden morgen gegen Mittag in London sein.«
    Sie hielt sich an seinen Schultern fest. »Und was wird dann?«, wagte sie, noch weiter zu fragen.
    »Das wird sich finden«, erwiderte Matthew so kühl, als ginge es ihn nichts an. »Ich muss dem Exchequer die Gelder übergeben und für mein Vorgehen Rechenschaft ablegen. Was dann geschieht und wann ich in der Lage sein werde, dich nach Fountains zu bringen, lässt sich unmöglich sagen.«
    Ich will nicht nach Fountains!, wäre es ihr um ein Haar entfahren. Sie stockte. Was wollte sie? Auf ewig mit ihm und seinem Tross umherziehen wie ein Trupp von Gauklern? Warum nicht? , regte sich in ihr eine Spur von Trotz. Was sind wir anderes als Gaukler – ein zusammengewürfelter Haufen von Gestalten, die in keine Ordnung gehören. Warum sollten wir also nicht zusammenbleiben? Dass Matthew sehr wohl in eine Ordnung gehörte, hatte sie wohlweislich unterschlagen.
    »Du hast keinen Grund, dich zu sorgen«, sagte Matthew in dem Ton, in dem er üblicherweise mit Timothy sprach. »Ich bringe euch bei Leuten unter, bei denen ihr sicher seid, auch wenn es Monate dauert.«
    »Bei Freunden, Matthew?«
    Er verzog den Mund zu einem hässlichen Lächeln. »Freunde habe ich nicht. Nur den Hund und das Pferd. Einen Jagdhabicht hatte ich ebenfalls einmal, aber der ist tot und ohnehin … Von diesen dreien betreibt keiner ein Gasthaus in London.«
    »Was ist los, Matthew?«, fiel sie ihm scharf ins Wort. »Wir haben Nacht für Nacht beieinandergelegen, sodass ich an das Wort der Genesis denken musste: Diese zwei sollen ein Fleisch sein. «
    »Weshalb lassen die Mönche von Quarr ein Mädchen in der Genesis lesen?«, knurrte Matthew.
    »Das steht nicht zur Debatte. Ich will wissen, weshalb ich auf einmal wieder ein lästiges Anhängsel für dich bin, dem du nicht einmal Höflichkeit schuldest. Was quält dich, Matthew?«
    »Nichts. Nur dein ständiges Fragen. Ich habe dir gesagt, ich bringe dich sicher unter und schaffe dich nach Yorkshire, sobald es möglich ist. Etwas anderes kann ich dir nicht sagen. Ich bin weder eine Handleserin noch ein Prophet. Und jetzt, wenn es genehm ist, würde ich gerne schlafen.«
    Natürlich schlief er nicht. Die halbe Nacht lang hörte sie, wie er sich im Stroh wälzte und immer wieder stöhnte. Sie rührte ihn nicht an, sondern tat so, als liege sie in tiefem

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